Tauchsieder

BIP BIP Hurra!

Das Bruttoinlandsprodukt ist kein harmloses statistisches Konstrukt, sondern eine politische Größe, ja: eine Ein-Zahl-Religion, an deren Wahrheit wir unbedingt glauben. Wie konnte es dazu kommen?

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Was der deutschen Wirtschaft Mut und Angst macht
Konsum Quelle: dpa
Investitionen Quelle: dpa
Angstmacher: EurokriseSie hat sich dank dem Einschreiten der Europäischen Zentralbank (EZB) merklich beruhigt. Seit ihr Chef Mario Draghi Ende 2012 den unbegrenzten Kauf von Staatsanleihen kriselnder Euro-Länder angekündigt hat, hat nach Ansicht der Finanzmärkte die Gefahr einer Staatspleite in Spanien und Italien deutlich abgenommen. Doch die Ruhe könnte sich als trügerisch erweisen. So reagieren die Börsianer zunehmend nervös auf die Umfrageerfolge von Ex-Ministerpräsident Silvio Berlusconi, der bei der Parlamentswahl kommende Woche in Italien wieder kandidiert. Berlusconi will viele Reformen seines Nachfolgers Mario Monti wieder zurücknehmen und beispielsweise die Immobiliensteuer wieder abschaffen. Quelle: REUTERS
Angstmacher: Euro-StärkeDie Gemeinschaftswährung steht unter Aufwertungsdruck. Seitdem die japanische Notenbank ihre Geldschleusen geöffnet hat, ist der Euro um 20 Prozent im Verglich zum Yen gestiegen. Dort sitzen einige der größten Konkurrenten der deutschen Exporteure, darunter Autokonzerne wie Toyota und viele Maschinenbauer. Sie können ihre Produkte dank der Yen-Abwertung billiger anbieten. Quelle: dpa
Auch im Vergleich zu anderen Währungen ist der Euro teurer geworden. Experten warnen bereits vor einem Abwertungswettlauf. Noch können die deutschen Exporteure mit dem Wechselkurs gut leben. Die größere Sorge ist, dass weniger konkurrenzfähige Euro-Länder wie Frankreich oder Italien darunter leiden. Das würde am Ende auch Deutschland treffen, das fast 40 Prozent seiner Waren in die Währungsunion verkauft. Quelle: dpa

Für den britischen Wirtschaftswissenschaftler Lionel Robbins war akademische Bescheidenheit noch eine Zier. Ökonomen, schrieb Robbins in seinem 1932 erschienenen Essay on the Nature and Significance of Economic Science sollen das Verhalten von Menschen angesichts knapper Güter erforschen und modellieren, nicht mehr und nicht weniger - nicht versuchen, die Welt in Zahlen auszudrücken und erst recht nicht meinen, aus Zahlen seien politische Empfehlungen abzuleiten. “Wir können Wohlstand nicht messen wie den Vitamin- und Kaloriengehalt von Nahrungsmitteln”, so Robbins; die Berechnung von Fortschritt, Wachstum und Produktion sei immer nur “ein relatives Konzept”.

80 Jahre später gehört Robbins’ Erkenntnis zum Standardvokabular einer Kapitalismuskritik, die angesichts zunehmend knapper Ressourcen mahnt, dem Materialismus zu entsagen, den “Wachstumswahn” zu überwinden und ein wirtschaftliches Denken hinter sich zu lassen, das um die Steigerung des Bruttosozialprodukts kreist. Popularisiert von Ökonomen wie Joseph Stiglitz und Amartya Sen, sind mittlerweile eine Fülle alternativer Indikatoren in Umlauf, die Wohlstand, Wachstum und Fortschritt nicht nur auf der Basis von Marktpreisen ermitteln, sondern auch andere Faktoren - darunter ökologische (“Nachhaltigkeit”), soziale (Gleichheit), finanzielle (Verschuldung), gesellschaftliche (Durchlässigkeit) wie individualpsychologische (Befindlichkeit) - berücksichtigen.

Wie sinnvoll oder nicht solche Indizes auch sein mögen - ihnen gemein ist die Einschätzung, dass “die Macht der einen Zahl” überwunden werden muss, über deren Entstehung und Verbreitung der Potsdamer Ökonom Philipp Lepenies soeben ein kleines, feines Buch veröffentlicht hat: Wie kam es, dass das BIP zu einer Zentralkategorie des politischen Denkens aufstieg? Wer verfiel auf die Idee, die ungeheure Komplexität der Welt in einer aggregierten Summe auszudrücken? Wann wurde der “bedeutungslose Haufen” von Zahlen (Joseph Schumpeter) zu einem Instrument der politischen Machtausübung? Und wie stark normiert das BIP heute unsere Wirtschaftswelt, die es nur in sich auszudrücken vorgibt?

Für den ehemaligen französischen Ministerpräsidenten Nikolas Sarkozy ist die Antwort klar: Die Politik, die einst den Siegeszug des BIP als Instrument des Regierens protegiert hat, hat sich längst zu seinem Sklaven degradiert: “Wir haben es zugelassen, dass unsere statistische Darstellung von Wohlstand mit Wohlstand an sich gleichgesetzt wurde und unsere Darstellung der Realität mit der Realität an sich…. Wir haben einen Kult um Zahlen kreiert, der uns nun gefangen hält.”

Zins wird seit Jahren manipuliert

Wie stark Europas Volkswirtschaften geschrumpft sind
Portugal: Für die portugiesische Wirtschaft sieht es besonders düster aus. Im vierten Quartal ist sie das fünfte Mal in Folge geschrumpft. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sank um 1,3 Prozent im Vergleich zum Vorquartal. Volkswirte hatten sogar einen noch stärkeren Rückgang um 1,5 Prozent erwartet. Portugal erhält derzeit Hilfe aus dem europäischen Rettungsfonds EFSF. Das Krisenland hat weitreichende Spar- und Reformmaßnahmen durchgeführt, die laut Volkswirten zunächst das Wirtschaftswachstum belasten. Für 2012 sind die EU-Kommission eine Verschlechterung der Situation. Sie rechnet mit einem Wachstumsrückgang von 3,3 Prozent. Quelle: dpa
Italien: Auch Italien ist laut Regierungskreisen zum Jahresende in eine Rezession gerutscht. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ging im vierten Quartal um 0,7 Prozent zurück. Italien konnte sich zuletzt etwas aus dem Klammergriff der Schuldenkrise befreien und unter der neuen Technokratenregierung von Ministerpräsident Mario Monti wieder Vertrauen an den Finanzmärkten zurückgewinnen. Für 2012 erwartet die EU-Kommission einen Rückgang von 1,3 Prozent. Quelle: dpa
Deutschland: Auch die deutsche Wirtschaft hat zum Ende des vergangenen Jahres einen kleinen Dämpfer erhalten. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ging im vierten Quartal 2011 um 0,2 Prozent im Vergleich zum Vorquartal zurück, wie das Statistische Bundesamt am Mittwoch in Wiesbaden mitteilte. Bei einer ersten Schätzung Ende Januar waren die Statistiker von einem Rückgang um etwa ein Viertel Prozent ausgegangen. Positive Impulse für die Wirtschaft kamen im viertel Quartal von den Investitionen: Vor allem Bauinvestitionen waren deutlich höher als im dritten Quartal 2011. Der Außenhandel hatte hingegen zum Jahresende einen negativen Effekt auf die deutsche Wirtschaft. Auch die Ausgaben der Verbraucher waren im Vergleich zum Vorquartal leicht rückläufig, wie die Statistikbehörde mitteilte. Für 2012 sieht die EU-Kommission ein Wachstum von 0,6 Prozent. Quelle: dpa
Belgien:Die belgische Wirtschaft ist 2011 bereits in zwei aufeinander folgenden Quartalen geschrumpft. Das BIP im dritten Quartal fiel um 0,1 Prozent und im letzten Quartal um 0,2 Prozent, wie die Belgische Nationalbank in Brüssel mitteilte. Insgesamt sei die Wirtschaft 2011 aber dank der ersten Jahreshälfte um 1,9 Prozent gewachsen. Quelle: AP
Spanien:Die spanische Wirtschaft ist im letzten Quartal 2011 um 0,3 Prozent geschrumpft . Das Nationale Statistik-Institut (INE) führte den Abschwung vor allem auf einen Einbruch der Inlandsnachfrage zurück, der durch das Wachstum der Exportwirtschaft nicht ausgeglichen werden konnte. Im dritten Quartal 2011 war die spanische Wirtschaft im Quartalsvergleich stagniert. 2012 erwartet die EU-Kommission einen Wirtschaftsrückgang von einem Prozent. Quelle: Reuters
Großbritannien:Großbritanniens Wirtschaft ist im vierten Quartal 2011 etwas stärker als erwartet geschrumpft. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) fiel im Vergleich zum Vorquartal um 0,2 Prozent. Grund seien unter anderem Rückgänge bei der Strom- und Gasproduktion, weil die Menschen wegen der warmen Witterung die Heizung ausgeschaltet hätten. Auch im Produktionssektor und beim Konsum gab es leichte Einbußen, teilte die Nationale Statistikbehörde mit. Am Dienstagabend hatte der Chef der Bank of England, Mervyn King, gewarnt, die britische Wirtschaft stehe vor einem „beschwerlichen, langen und unebenen“ Erholungsweg. Im dritten Quartal war die britische Wirtschaft noch um 0,6 Prozent zum Vorquartal gewachsen. Quelle: Reuters
Frankreich: Eine rühmliche Ausnahme gab es unter den großen EU-Ländern. Die französische Wirtschaft wuchs zwischen Oktober und Dezember überraschend um 0,2 Prozent gegenüber dem Vorquartal. Volkswirte hatten zuvor einen Rückgang um 0,2 Prozent erwartet. Quelle: dpa

Wie bitter wahr diese Worte sind, bekommen wir zum Beispiel mit jeder weiteren Maßnahme vor Augen geführt, die angeblich zur Rettung des Euro beiträgt: Politik und EZB haben längst alle ökonomischen Grundregeln über Bord geworfen, um das BIP der Volkswirtschaften in Europa auch nur noch einigermaßen im Gleichgewicht zu halten. Der Preis des Geldes (sprich: der Zins) wird seit Jahren hemmungslos manipuliert, damit die Finanzmarktakteure jubeln können, Banken nicht Konkurs anmelden und Unternehmen weiter investieren - das alles ist kreditaufgeschäumte BIP-BIP-Hurra-Politik der übelsten Sorte, eine Politik, die ihr eigenes Wachstumsdogma in vodooökonomischer Hinsicht desto doktrinärer verfolgt, je mehr sie das Zutrauen zu ihm in ökologischer Hinsicht verliert, ja: eine buchstäblich perverse Politik, die nicht die Mehrung des Wohlstands (das BIP-Wachstum) zum Maßstab ihres Handelns macht, sondern die das BIP mutwillig zur Kennziffer einer Wohlstandsillusion verzerrt, die von keiner Realität mehr gestützt wird. In der vergangenen Dekade ist Deutschland mit den Mitteln des Zinskeynesianismus um durchschnittlich 1,1 Prozent per anno “gewachsen” - auf Kosten von 300 Milliarden Euro Neuverschuldung… - was, bitteschön, soll ein solches BIP-“Wachstum” noch aussagen?

Der unheimliche Siegeszug des BIP als a) statistisches Konstrukt, b) politisches Instrument, c) als die gesamte Wirtschaftswelt (be)herrschende Denkfigur und d) als zinskeynesianische Fortschrittsillusion lässt sich daher trefflich als vierstufige Vernunftregression beschreiben: Vor bald vier Jahrhunderten fingen interessierte Menschen an, die wirtschaftliche Wirklichkeit in Zahlen auszudrücken, erste Daten zu sammeln und auszuwerten, um die religiöse Spekulation zu überwinden und auf empirischer Grundlage das Wissen vom Menschen zu mehren. Schon bald danach machte sich die Politik den Datenschatz als Mittel der Machtausübung zunutze. Im 20. Jahrhundert stieg das BIP-Wachstum zum Dogma sowohl kommunistischer als auch kapitalistischer Systemkonkurrenten auf. Heute schließlich wird das BIP, wie gezeigt, als Ein-Zahl-Religion verheiligt, an dessen Wahrheit wir unbedingt glauben müssen, weil alles an ihr bezweifelbar ist. Aber halt, langsam, zum Mitdenken, noch einmal der Reihe nach:

Die Geschichte des BIP

Hier ist die Luft raus
ChinaChinas Wirtschaft wuchs im ersten Quartal im Vergleich zum Vorjahr um 7,7 Prozent, das war weniger als im Vorquartal und blieb auch unter der Analystenprognose von acht Prozent. "Die allseits erhoffte Beschleunigung der wirtschaftlichen Aktivität in China blieb trotz großzügiger Kreditvergabepolitik aus", sagten Experten. Nun mehren sich die Sorgen, dass die asiatische Konjunkturlokomotive an Schwung verliere, erklärten die Analysten der National-Bank die Reaktion an den Finanzmärkten. Das schwächere Wirtschaftswachstum Chinas hat bereits die Anleger an den Finanzmärkten vergrault, Verschärfungen im Immobiliensektor und eine höhere Inflation führten zu einem Kursrückgang chinesischer Aktien. Moody's senkte den Ausblick für die Chinas Kreditwürdigkeit von positiv auf stabil, woraufhin sich Kupfer und Öl deutlich verbilligten, da Investoren eine schwächere Nachfrage aus der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt fürchteten. Quelle: Reuters
BrasilienBrasilien war 2012 ein beliebtes Investitionsziel: Anleger brachten insgesamt 65,3 Milliarden Dollar in das lateinamerikanische Land. Trotzdem nahm das Wachstum über das gesamte Jahr 2012 um 0,9 Prozent ab. Nur im letzten Quartal stieg das Wachstum um -1,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. In den ersten beiden Monaten 2013 gingen daraufhin die Zuflüsse von neun Milliarden Dollar im selben Zeitraum des Vorjahres auf 7,5 Milliarden Dollar zurück.Auch die Kurse brasilianischer Aktien gingen wegen des schwächeren Real, der höheren Arbeitslosigkeit, der Inflation und des relativ geringeren BIP-Wachstums auf Talfahrt. Quelle: dpa
IndienDie Reserve Bank of India (RBI) hat ihre Wachstumsprognose für 2013 von 5,8 Prozent auf 5,5 Prozent gesenkt. Behalten die Experten Recht, wäre das die niedrigste Wachstumsrate seit 2003. Schon 2012 hatte das Bruttoinlandsprodukt unter der schwächelnden Landwirtschaft und der Schwäche im Dienstleistungssektor zu leiden. Das BIP-Wachstum Indiens ging von 5,3 Prozent im dritten auf 4,5 Prozent im vierten Quartal zurück. Hoffnung ruht jetzt auf dem Vorhaben der Zentralbank, die Richtlinien für Banklizenzen an private und öffentliche Gesellschaften zu vereinfachen. Dadurch könnten weitere Banken gegründet werden. Quelle: AP
Südafrika2012 ist die südafrikanische Wirtschaft um 2,5 Prozent gewachsen, nach 3,5 Prozent im Jahr 2011. Die Kapitalzuflüsse ausländischer Investoren (foreign direct investments) nahmen im Jahr 2012 sogar um 24 Prozent ab. Mit Kapitalzuflüssen in Höhe von 4,5 Milliarden Dollar war das das schlechteste Ergebnis seit dem Jahr 2010. Grund für das rückläufige Wachstum und die daraus resultierende Investorenflucht sollen hohe Treibstoffpreise, Inflation, eine Abwertung des Rand sowie eine schwächere Auslandsnachfrage nach südafrikanischen Exporten sein. Dementsprechend senkte die südafrikanische Regierung auch für 2013 die Prognose: Statt 3,0 Prozent soll das BIP nur um 2,7 Prozent wachsen. Quelle: dpa
TürkeiIn der Türkei schwächelt die Binnennachfrage. Das Wirtschaftswachstum im Jahr 2012 betrug nur noch 2,2 Prozent - das ist der niedrigste Wert seit 2009. In den Jahren 2010 und 2011 erzielte die Türkei noch Wachstumsraten von neun Prozent. Quelle: AP
RusslandAuch in Russland fiel das Wirtschaftswachstum auf den niedrigsten Stand seit 2009 zurück: 2012 erreichte das BIP-Wachstum nur 3,4 Prozent. 2011 waren es noch 4,3 Prozent Wachstum gewesen. Analysten hoffen auf die rund 30 Wirtschaftsabkommen, die die russische Regierung mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping geschlossen hat. Energielieferungen und Militärtechnologie könnten die Wirtschaft beider Länder ankurbeln. Quelle: AP
SüdkoreaInsgesamt ist das südkoreanische BIP im Jahr 2012 um zwei Prozent gewachsen - das ist das schlechteste Ergebnis seit 2009. Schuld an der vergleichsweise mauen Entwicklung sind die schwachen Exportzahlen, der unerwartet schwache globale Aufschwung und geringere Investitionen. Auch 2013 soll es nicht viel besser werden: Das Finanzministerium senkte seine Wachstumsprognose von 3,0 auf 2,3 Prozent. Quelle: AP

Die Geschichte des BIP beginnt mit William Petty im Zeitalter der Aufklärung. Der britische Ökonom ist im 17. Jahrhundert ganz zeitgemäß der Auffassung, dass sich das Los der Menschheit mit Induktion und Empirie verbessern lasse, weshalb er “Observations” anstellt, die ihm schließlich das Verfassen einer “Political Arithmetick” erlauben. Darin stellt Petty Beobachtungen und Daten - etwa über Einkommen und Ressourcen - zusammen, die es dem Monarchen erleichtern sollen, seine Untertanen in peace and plenty zu erhalten. Kurzum, die Erhebung wirtschaftlicher Daten dient von Anfang an “der Kunst des Regierens”, dem “Ruhm des Regenten” und “dem Vorteil der Menschheit” - politischen Zwecken. Mal liefert Petty mit seinen - sehr annahmebasierten - Statistiken die Grundlage zur Verbreiterung der Steuerbasis (und zur Entlastung seiner selbst als Grundbesitzer), mal den nationalpsychologisch damals wichtigen Nachweis, dass England es mit Frankreich jederzeit aufnehmen kann. Auf diese Weise schuf schon Petty “kein Abbild der Realität” mehr, schreibt Philipp Lepenies, sondern eine “eigene Realität”.

Es ist bekannt, dass Adam Smith ein Jahrhundert nach William Petty der Auffassung zuneigt, universal opulence und general plenty ließen sich dank der unsichtbaren Hand des Marktes besser befördern als durch die ordnende Hand des Monarchen, weshalb seine Berechnungen des annual produce auch keiner politischen Interpretation dienen, sondern allein seinen theoretischen Interessen. Daran freilich, dass die Wirtschaft den Zweck habe, den “Wohlstand der Nationen” zu befördern, lässt Smith keinen Zweifel. Es ist deshalb wenig verwunderlich, dass das Ausbleiben des Wohlstands für weite Teile der Bevölkerung - für Smith noch eine gottgewollte Unabänderlichkeit - die Denker des 19. Jahrhunderts dazu bewegt, die Ökonomie erneut in die politische Pflicht zu nehmen: Alfred Marshall und Cecil Pigou zum Beispiel geht es darum, praktische Beiträge zur Lösung der “sozialen Frage” zu leisten. Entsprechend interessiert sind die beiden Ökonomen an einer monetären Evaluierung der Wirtschaft - und daran, dabei vor allem die Einkommen und den Konsum in den Blick zu nehmen. An der Erhöhung der Gütermenge (Bruttosozialprodukt) sind sie nur in instrumenteller Hinsicht interessiert, das heißt: nur deshalb, weil sie der Steigerung des Volkseinkommens dient.

Die Entscheidung zugunsten des BIP als entscheidendem Parameter der Wohlstandsmessung fällt erst in den zwanzig Krisenjahren von 1930 und 1950 - die wichtigen Stichworte lauten: New Deal, Zweiter Weltkrieg, Marshallplan. Es ist hier nicht der Platz, die ökonomische Fachdiskussion jener Jahre vor allem in England und den USA (Colin Clark, Simon Kuznets, John Maynard Keynes) nachzuzeichnen - eine Diskussion, die um die Systematisierung der Berechnung des Wohlstandswachstums kreiste. Von allgemeinerer Bedeutung ist, dass die Politik die Einwände, die vor allem Simon Kuznets gegen eine forcierte Interpretation der verbesserten Datenlage erhebt, seine Warnungen, dass jede aggregierte Summe nur am Markt erzielte Leistungen messe und eine gründliche Analyse der Wirtschaft (Familienarbeit, informeller Sektor…) keinesfalls ersetzen könne, zunehmend gerne überhört.

Krieg pusht das BIP

Die größten Wirtschaftsmächte 2060
Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat in ihrer Langfristprognose dramatische Veränderungen in der Weltwirtschaft bis 2060 prognostiziert. "Schnell wachsende Schwellenländer werden in den kommenden 50 Jahren einen immer größeren Anteil an der weltweiten Wirtschaftsleistung erbringen", heißt es dazu bei der OECD. Die alten Industrienationen werden das Nachsehen haben. Die Verschiebung in Richtung Niedriglohnländer werde dort dazu beitragen, die Lebensstandards zu verbessern. "So dürfte sich etwa das Pro-Kopf-Einkommen in den ärmsten Ländern bis 2060 vervierfachen", so die OECD. Nachfolgend die Top-Ten der Wirtschaftsnationen, wie sie die OECD für das Jahr 2060 vorhersagen. Quelle: REUTERS
Platz 10: Deutschland Quelle: dpa
Platz 9: RusslandDie einstige Weltmacht kann sich dank hoher Rohstofferträge besser halten. Dennoch würde Russland um drei Plätze im internationalen Vergleich zurückfallen und nur noch 2,3 Prozent zur Weltwirtschaftsleistung beisteuern. 2011 waren es noch 3,6 Prozent. Im Schnitt würde Russland bis 2060 noch um jährlich 1,9 Prozent wachsen. Quelle: AP
Platz 8: GroßbritannienDie Briten lägen der OECD-Prognose 2060 wieder zwei Plätze vor Deutschland, statt wie 2011 zwei Plätze dahinter. Die Insel soll dann für 2,4 Prozent der Wirtschaftsleistung verantwortlich sein und damit um nur einen Platz abrutschen. 2011 lag das Land mit einem Anteil von 3,5 Prozent auf Platz sieben. Das Durchschnittswachstum schätzten die Experten für die nächsten Jahrzehnte auf jährlich 2,1 Prozent. Quelle: REUTERS
Platz 7: MexicoDas Schwellenland gehört zu den Wirtschaftstigern der Zukunft und soll seine wirtschaftliche Bedeutung in der Welt in den kommenden fünf Jahrzehnten um sieben Prozent steigern und dann 2,7 Prozent zum Weltwirtschaftsprodukt beisteuern. Damit würde Mexico um vier Plätze vorrücken. Die OECD schätzt für Mexico eine jährliche Wachstumsrate von 3,0 Prozent im Durchschnitt. Quelle: dapd
Platz 6: IndonesienIndonesien wird eine regelrechte Aufholjagd starten. 2011 rangierte das Inselreich noch auf Platz 16 und hatte einen Anteil am globalen Wirtschaftsprodukt von 1,7 Prozent. Der soll mit einem jährlichen Wachstum um 4,1 Prozent auf immerhin 3,0 Prozent ansteigen. Quelle: REUTERS
Platz 5: JapanDie Japaner werden noch mehr als andere alte Industrienationen durch ihre Überalterung gebremst. 2060 wird das für Japan dennoch nur eine Verschlechterung um zwei Plätze bedeuten; der Anteil an der Weltwirtschaft bis dahin von 6,7 auf 3,2 Prozent zurückgehen. Das Durchschnittswachstum läge bis dahin laut Prognose bei 1,3 Prozent. Quelle: dpa

Und so dienen Kuznets Berechnungen eines fallenden "National Income" dem amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt schon bald zur Begründung staatlicher Investitionen (“New Deal“). Mehr noch: Die nackte statistische Information steigt in jenen Jahren zu einem Fortschrittsindikator auf, an dem sich von nun an nicht nur der wirtschaftliche Erfolg eines Landes, sondern auch der politische Erfolg seiner Regierung bemisst: “Wir müssen wieder den langen, stetigen und aufwärts führenden Weg eines steigenden Volkseinkommen einschlagen”, so Roosevelt 1938 in seiner Budgetrede. Seither lautet der kleinste gemeinsame Nenner aller Politiker weltweit: Mit Wachstum aus der Krise.

Es ist schließlich der Zweite Weltkrieg, der unseren Blick auf die ökonomische Landschaft entscheidend verändert und bis heute prägt. Die große ökonomische Frage damals lautet: Wie hoch ist das Kriegspotential der Wirtschaft? Wie hoch lässt sich der Rüstungssektor fahren, ohne Engpässe in anderen Wirtschaftsbereichen zu riskieren? In England stellt Keynes 1940 Überlegungen über die Frage “How to pay for the war” an - und empfiehlt, neben Konsum und Investitionen auch Staatsausgaben ins Volkseinkommen einzurechnen. Und in den USA stellt man erfreut fest, dass die Umstellung von einer Friedens- auf eine Kriegswirtschaft den Konsum zwar belastet, sich aber zugleich (nicht nur wegen steigender Staatsausgaben) positiv auf Beschäftigung, Innovation und Produktivität auswirkt.

Seither jenen dunklen Jahren steht die Steigerung der Gütermenge (das BIP) im Blickpunkt des politischen Interesses und nicht mehr die Steigerung der besteuerbaren Einkommen. Daran ändert auch die erneute Umstrukturierung auf eine Friedenswirtschaft nach 1945 nichts. Kuznets mahnt: Im Krieg verändere sich der Endzweck der Wirtschaft, sicher, der Staat spiele eine entscheidende Rolle, die Produktion von Gütern stehe im Vordergrund. Aber in Zeiten des Friedens sei die Güterproduktion für den Menschen da und nicht umgekehrt - deshalb müsse die “Vorstellung des guten Lebens das Kriterium” für die Messung des Wohlstands sein. Doch Kuznets Einwände bleiben unerhört: Künftig steht nicht mit dem Zweck des Wirtschaftens (der Bereitstellung von Gütern) der Konsument und der Verbraucher im Mittelpunkt der ökonomischen Statistik, sondern das Mittel zur Erreichung des Zweckes: die Produktion - das BIP.

Konsumieren, um zu arbeiten

Wachstumsstrategien für Europa
François Hollandes Mission lässt sich auf einen kurzen Nenner bringen: Wachstum. Der neue französische Präsident hat sich zum Ziel gesetzt, Europa die seiner Meinung nach einseitige Ausrichtung auf die Sanierung der Staatsfinanzen auszutreiben und den Kontinent damit aus der Wirtschaftskrise zu führen. Das Thema ist keine Erfindung Hollandes - die EU-Regierungschefs haben sich immer wieder damit beschäftigt, wie der Kontinent Rezession und Arbeitslosigkeit entrinnen kann. Aber die Debatte um die richtige Strategie erhält durch die Wahl des Sozialisten eine ganz neue Dynamik. Quelle: dpa
Die Leitfrage dabei lautet: Wie lässt sich die Wirtschaft ankurbeln, ohne dafür viel Geld in die Hand zu nehmen? Schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme gelten nicht als Option - schließlich sind die Staatskassen leer. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso propagiert daher, "auf wachstumsfreundliche Art und Weise zu sparen". Nach Ansicht vieler Ökonomen lässt sich die Konjunktur nur dann ankurbeln, wenn Wirtschafts- und Finanzpolitiker sowie Notenbanker einige bislang als unantastbar geltende Prinzipien aufgeben. Quelle: dpa
1. Weniger SparenDie heftigen Sparprogramme in Griechenland, Spanien, Italien und Co. sind nach ihrer Einschätzung Teil des Problems, nicht Teil der Lösung: „Der derzeitige Austeritätskurs ist zu hart“, sagt der Chef des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung, Gustav Horn. Die Sparziele sollten auf vier bis fünf Jahre gestreckt werden. Ähnlich argumentiert Holger Schmieding, Chefvolkswirt der Berenberg Bank: „Wer Wachstum will, darf die Austeritätspolitik in den Krisenländern nicht übertreiben.“ Quelle: dapd
Barroso setzt dabei unter anderem auf die von ihm vorgeschlagenen Projektbonds. Damit will die EU-Kommission dieses und nächstes Jahr private Investitionen in Höhe von 4,5 Milliarden Euro in Infrastrukturprojekte in den Bereichen Verkehr und Energie anstoßen. Die EU selbst soll die privaten Investitionen mit 230 Millionen Euro ins Rollen bringen. Quelle: dapd
2. Unkonventionelle GeldpolitikDie Europäische Zentralbank kann nach Auffassung von Ökonomen mehr für das Wachstum tun. Die EZB sei deutlich restriktiver als die Notenbanken in vielen anderen Industrieländern, betont etwa Patrick Artus, Chefvolkswirt der französischen Investmentbank Natixis. So seien die kurz- und langfristigen Zinsen nach Abzug der Inflationsrate deutlich höher als in den USA oder Großbritannien. Um Abhilfe zu schaffen, könnte die EZB die Leitzinsen von derzeit einem Prozent auf die Untergrenze von null senken - so, wie es die Zentralbanken in den USA und in Großbritannien schon vor mehreren Jahren getan haben. Quelle: dpa
Noch wichtiger ist nach Ansicht vieler Beobachter aber, dass die EZB die Panik auf dem Markt für Staatsanleihen bekämpft - indem sie signalisiert, dass sie im äußersten Notfall als Käufer agiert. Europas Kernproblem sei die Gefahr, dass die kleineren Länder größere Staaten wie Italien anstecken, so Schmieding. „Das Risiko einer Finanzmarktpanik könnte die EZB mit solch einer Ankündigung in den Griff bekommen“, glaubt der Volkswirt. An den Finanzmärkten würden die Risikoaufschläge sinken, Staaten wie Unternehmen könnten sich leichter refinanzieren. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werde die EZB eine solche Ankündigung gar nicht einlösen müssen, sagt IMK-Chef Horn: „Das ist wie im Kalten Krieg: Da hat es gereicht, seine Atomwaffen zu zeigen.“ Quelle: Reuters
3. Sanierung der BankenEin stabiles, funktionierendes Bankensystem ist Grundvoraussetzung für eine prosperierende Volkswirtschaft - viele Geldinstitute in der Euro-Zone gehen aber nach wie vor am Stock und zaudern bei der Vergabe von Krediten. „Wir brauchen dringend eine Sanierung und Rekapitalisierung der Banken“, betont Oxford-Professor Clemens Fuest. „So kann die Politik einen katastrophalen Absturz der europäischen Wirtschaft verhindern.“ Zudem brauche die Währungsunion eine einheitliche Bankenaufsicht und Regeln dafür, wie in Schieflage geratene Banken saniert werden. Quelle: Reuters

Der Hintergrund: In den USA geht nach dem Ende des “Bruttosozialproduktkriegs”, so der amerikanische Historiker Russel Weigley, die Angst vor einer zweiten Großen Depression um. Man erinnert sich damals an John Stuart Mill, der ein Endstadium der industriellen Produktion prognostiziert hat; auch die Dauerstagnationsthese von Keynes spukt damals in vielen Köpfen herum. Es ist die Geburtsstunde des modernen Wachstumsdogmas. Im Employment Act von 1946, schreibt Lepenies, wird “die Ausweitung der Produktion zum Regierungsziel” erklärt. Seither ist das Bruttosozialprodukt der Goldstandard “für die interne politische und soziale Stabilität eines Landes”, “zu der in einer Zahl ausgedrückten Metapher für den Zustand der Wirtschaft und damit für den Zustand eines Landes“ - eine Zahl, “die aus der politischen Diskussion nicht mehr wegzudenken“ ist.

Vor allem aber gilt seither der Grundsatz: Wir arbeiten nicht, um Güter zu produzieren und zu konsumieren. Sondern wir produzieren und konsumieren, um (eine) Arbeit(sstelle) zu haben. Das ist die eigentliche realwirtschaftliche Transformation, die sich hinter dem Siegeszug des BIP verbirgt: Die “Macht der einen Zahl” besteht exakt darin, dass sie die Prämissen dessen, was wir heute ökonomische Vernunft nennen und vor 100 Jahren ökonomische Vernunft genannt haben, komplett auf den Kopf stellt. Der Marshall-Plan (1948 - 1952) hat diesen Prozess gewissermaßen vollendet: Er hat der amerikanischen Wirtschaft nicht nur einen großen Absatzmarkt eröffnet, sondern auch ein für allemal das Verhältnis von kultureller und zivilisatorischer Entwicklung geklärt: Die Vision von ökonomischen Nachzieheffekten und einer aufholenden Entwicklung hat dazu geführt, dass die Welt bis heute unter “Fortschritt” vor allem ökonomisches “Fortschreiten” versteht: die Steigerung des Bruttosozialprodukts.

Der große Mangel an Lepenies’ Buch besteht darin, dass er diese große Erzählung vor lauter interessanten Einzelheiten zuweilen aus dem Auge verliert und nicht schlüssig verdichtet. Vor allem aber gelingt es ihm nicht, die Erfolgsgeschichte des BIP zugleich als Problemgeschichte zu konturieren, die ihren Ausgangspunkt von den aktuellen Nachhaltigkeitskrisen (Klima, Umwelt, Finanzen) nähme. Kein Wort von den Zweifeln, die Stiglitz und Sen seit einigen Jahren am BIP äußern. Kein Wort darüber, was von einer Wirtschaft zu halten ist, deren primäre Aufgabe nicht darin besteht, Wohlstandsbürger mit Gütern zu versorgen, sondern Wohlstandsbürger in zunehmend schlecht bezahlter Arbeit zu erhalten.

Kein Wort schließlich davon, dass der Glaube ans BIP und seine Anfälligkeit zur politischen Manipulation ein Kreditexpansionsmodell begünstigt haben, das die chronische Wachstumsschwäche unserer Volkswirtschaften seit den 1970er Jahren zugleich schönt und verschärft - und dass das BIP zum Credo eines finanzmarktliberalen Staatsschuldenkapitalismus wurde, der die goldenen Regeln der Marktwirtschaft ad absurdum führt. Das alles freilich ändert nichts daran, dass man Lepenies´ Studie viele Leser wünscht. Als Erzählung mag seine “politische Geschichte des Bruttoinlandsprodukts” vielleicht nicht überzeugen. Als Genealogie einer Zahlenidee ist sie lehrreich - und garantiert nachhaltig.

Philipp Lepenies, Die Macht der einen Zahl, Suhrkamp 2013, 16,00 Euro

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