Tauchsieder

Koalition der Kümmerer

Seite 2/2

Bündnis der Wohltaten

 

Dabei wäre am meisten gewonnen, wenn sich die angehenden Koalitionäre in den nächsten Monaten nicht mit dem „guten Leben“ beschäftigen würden, sondern auf eine Rekombination republikanischer Grundsätze im Sinne Kants - und eine entschlossene Sozialpolitik. Denn anders als die Beteiligten uns weismachen wollen, hängt der Erfolg der Verhandlungen keineswegs davon ab, ob sich genügend Kompromisse finden, im Gegenteil: Die Deutschen wünschen sich kein Bündnis der addierten Programme und aggregierten Wohltaten. Sondern sie wünschen sich eine Koalition der nachholenden Selbstverständlichkeiten.

Zu diesen Selbstverständlichkeiten gehörten zum Beispiel: eine großzügige Aufstockung des Personals bei Polizei und Justiz; eine entschlossene Bekämpfung der vor allem in Großstädten offensichtlich gewordenen Kriminalität; eine effizientere Rechtsdurchsetzung bei Abschiebungen; eine verbindliche Bleibeperspektive (plus Familiennachzug) für anerkannte Asylbewerber und (einen Kreis von) Kriegsflüchtlingen; die steuerliche Gleichstellung von Großkonzernen wie Amazon und Google und das konsequente Schließen von Schlupflöchern, die Abschaffung des Solidaritätszuschlags als „provisorische“ Steuer für den Wiederaufbau der neuen Länder; eine Art Marshallplan für die Modernisierung von Schulen und Straßen – oder allgemein gesprochen: Dazu gehörten alle Projekte zur Rückgewinnung der steuerzahlenden Mitte, die von ihrem Staat vor allem die grundlegendsten aller Leistungen erwarten: Ordnung, Sicherheit, Verlässlichkeit.

Und dazu gehörte, wie gesagt, zweitens, eine entschlossene Sozialpolitik für Kranke, Arbeitslose, Gering- und Normalverdiener: bezahlbare Ideen für die Pflege der Alten und eine wettbewerbsorientierte Bürgerversicherung, die strikte Einhaltung der Mindestlöhne und die Einführung einer Basisrente über dem Grundsicherungsniveau, die Absenkung der Sozialausgaben und die Förderung von Wohneigentum.

Dazu bräuchte es in den nächsten Wochen viel Mut, Offenheit und Selbst-Enttäuschungsbereitschaft auf allen Seiten – drei Ressourcen ausgerechnet, an denen es derzeit besonders schlimm mangelt in Berlin. Die Merkel-CDU ist schwach wie nie; der Nachwuchs um Jens Spahn und Carsten Linnemann arbeitet bereits machtvoll an der wirtschaftsfreundlichen und wertkonservativen Re-Profilierung der Christdemokratie. Die Seehofer-CSU ist Geschichte; nach den Verhandlungen wird Markus Söder das, nunja: neue Gesicht der Partei sein und mit neobajuwarischem Charme eine volkstümelnde Politik rechts der Mitte anzetteln. Die Grünen wiederum müssen im Bündnis mit drei „bürgerlichen“ Parteien sehr zu Recht um ihre linke Flanke bangen – ein Problem, das die FDP sehr zu Recht nicht interessiert. Die Parteispitze der Liberalen schließlich hat das Problem, dass vielleicht sie selbst mit den Özdemir-Grünen gut auskommt – dass aber viele FDP-Wähler von ihrem Lieblingsfeind der vergangenen Jahre („Verbotspartei!“) noch immer besessen sind.

Anders gesagt: Es läuft in den Sondierungsgesprächen wohl nicht auf Kant plus zielorientierte Sozialpolitik hinaus. Sondern auf ein Design des „guten Lebens“. Und weil darunter alle Teilnehmer etwas anderes verstehen, wird es am Ende kein Regierungsprogramm geben, sondern einen Vierjahresplan mit wohlklingender Überschrift, der lauter Kompromisse addiert.

>

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%