Tauchsieder
Quelle: imago images

Corona – eine Zwischenbilanz

Wie lange steht Deutschland noch still? Was kommt nach der Medizinpolitik? Können wir mit dem Virus tanzen? Kommt ganz darauf an. In den nächsten zwei Wochen öffnen oder schließen sich Horizonte.

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Die journalistische Vernutzung des Wortes „Narrativ“ hat dazu geführt, dass es heute fast nur noch als Synonym für ein simples Denkschemata in Gebrauch ist. Dabei hatten Sozialwissenschaftler ursprünglich „méta récits“ im Sinn, also Meistererzählungen, die Werte, Emotionen und historische Referenzereignisse von Nationalstaaten bündeln, einen sinnstiftenden Mix von (Fremd- und) Selbstzuschreibungen, in denen sich Kulturkollektive spiegeln – die Gesellschaften langfristig prägen und die von Gesellschaften langfristig geprägt werden. Die „Verantwortung für NS-Verbrechen“, die „soziale Marktwirtschaft“ und „Made in Germany“ zum Beispiel. Sie genießen, allgemein anerkannt, als „Narrative“ Legitimität in Deutschland. Sie durchwirken als Generalmetaphern und Staatsräson unser Handeln, unsere Welt als Wille und Vorstellung. Sie vermitteln Orientierung, Verankerung, Zuversicht – und lassen sich als dauernd verpflichtenden Anspruch lesen.

Von welcher Art wird das Narrativ „Corona“ sein, das die Deutschen in zwei, zehn oder zwanzig Jahren über sich erzählen? Darüber wird vor allem in den nächsten zwei, drei Wochen entschieden. Und das sollten wir im Kopf behalten, wenn wir in über den Shutdown und sein Ende, die gesundheitlichen Kosten und ökonomischen Risiken debattieren: Wie wollen wir auf diese Krise zurückblicken?

Die ersten Corona-Wochen in Deutschland haben darüber noch keinen Aufschluss gegeben. Sie waren nicht von „Narrativen“ geprägt, sondern von drei hochinfektiösen, medizinpolitischen Dispositiven, die in kalmierender, volkspädagogischer Absicht in Umlauf gebracht wurden, die sich viral vervielfältigten und munter zirkulierend die Diskursnorm bestimmten leider nicht immer zum Lob der Regierung und der Medien, die sie distribuierten.

Die ersten Wochen der Krise, wir erinnern uns, waren geprägt von hochriskanten Risikoeinschätzungen, in denen Experten und Verantwortungsträger forsch die Grenze zur Verharmlosung, zu (Selbst-)Täuschung und zum (Selbst-)Betrug überschritten. Der Präsident des Robert-Koch-Institutes, Lothar Wieler etwa gestand am 24. Januar, noch viel zu wenig über das Virus zu wissen – aber das Wenige war ihm doch reichlich genug, um die Bedrohungslage lapidar herunterzuspielen. „Die Schwere, die Krankheitslast der Grippe ist deutlich größer“, sagte Wieler, offenbar sorgten sich die Menschen in Deutschland über „etwas Neues, Unbekanntes“ mehr als über „etwas, was kontinuierlich unterwegs ist“ und das sei bedauerlich, ja töricht, ließ Wieler durchblicken: Die Menschen nähmen „die Grippe leider nicht genügend ernst“. Heute wissen wir, was wirklich bedauerlich und töricht ist, nämlich dass der Mikrobiologe das SARS-CoV-2 Virus nicht rechtzeitig und genügend ernst nahm.

Auch der Gesundheitsminister ermahnte sich und die Deutschen noch Ende Januar zur Gelassenheit: „Es war zu erwarten, dass das Virus Deutschland erreicht“, sagte Jens Spahn nach der Identifizierung des ersten Corona-Falles in Bayern: Die Gefahr für die Gesundheit durch die neue Atemweg-Erkrankung sei gering, und: Deutschland ist „gut vorbereitet“ – eine Aussage, die Spahn einen Monat später noch einmal bekräftigte: Deutschland sei „insgesamt gut vorbereitet“. Heute wissen wir, dass Spahn damit im Allgemeinen goldrichtig lag und im Besonderen voll daneben. Im Allgemeinen erwies sich Deutschlands Gesundheitsarchitektur den Systemen vieler anderer Länder in den ersten Corona-Wochen tatsächlich überlegen: Man war und ist in Europa und weltweit, wenn schon Patient, gern hierzulande Patient. Was die Versorgung in der Breite und Spitze, die Zahl der Intensivbetten und Beatmungsgeräte anbelangt, scheint Deutschland vergleichsweise sehr gut vorbereitet.

Doch leider gilt das ganz und gar nicht im Besonderen. Manche Politiker, etwa NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, fuhren das Land spät, schrittweise, fast schon widerwillig herunter – und ziehen etwa den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder auch dann noch des „Vorpreschens“, als es mit Blick auf die Belastung von Krankenhäusern, Ärztinnen und Pflegern um jeden Tag ging: Man weiß sehr genau, dass es sich bei „aktuellen Fallzahlen“ um Zahlen handelt, die die Situation vor zehn, zwölf Tagen erfassen (nach Ablauf der Inkubationszeit, Diagnose, Testdauer, Meldeverzug) und entschlossenes Handeln tat längst Not, als Bundeskanzlerin Angela Merkel die Deutschen in einer Fernsehansprache ermahnte, sich dem Rat der Virologen gemäß zu verhalten.

Vor allem aber hat Spahn nicht dafür gesorgt, dass das Personal in Krankenhäusern, Hausarztpraxen, Pflegeheimen und -diensten mit dem Elementarsten versorgt ist: mit Atemschutzmasken und Schutzkitteln. Die Lage scheint dramatisch. Die Pflegefachkräfte an der Krankheitsfront fühlen sich dem Virus von der Politik ausgeliefert, kommen sich vor wie „Kanonenfutter“. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach befürchtet eine „gigantische Knappheit an Material“, zumal die Epidemie in den USA derzeit besonders schnell um sich greift. Und auch der FDP-Gesundheitspolitiker Andrew Ullmann schlägt Alarm: Deutschland habe „sehr knapp kalkuliert“, manche Krankenhäuser hätten nur noch Vorräte für knapp zwei Wochen: „Die Zahlen sind schon besorgniserregend.“

Im Übergang zum zweiten medizinpolitischen Corona-Dispositiv rund um Merkels Rede vollzog sich dann ein Registerwechsel: Die rhetorischen (Selbst-)Besänftigungsformeln der ersten Wochen wurden abgelöst durch ein datenbasiertes Panik-und-Sorge-Paradigma, genauer: durch eine animierte Grafik, die im Gewand mathematischer Elementarerziehung ein regierungsamtliches Disziplinarprogramm ausrollte. Es war fast schon rührend (und peinlich), wie sehr sich die Bildungsrepublik Deutschland darum bemühte, den Deutschen die Wucht einer einfachen Exponentialfunktion vor Augen zu führen: Der MINT-Notstand ist offenbar noch grösser als gedacht in Deutschland.

Aber dem Himmel sei Dank: Die Grundbotschaft von „flatten the curve“ (Video ab Minute 8:30) ist binär, also schlicht und ergreifend genug, um Massenwirksamkeit zu erreichen: Entweder wir kontrollieren das Desaster – oder das Desaster kontrolliert uns. Es ging nun nicht mehr darum, gesunde Bürger vor einer Krankheit zu schützen, sondern das Gesundheitssystem vor kranken Bürgern. Nicht mehr darum, die Verbreitung des Virus zu verhindern, sondern zu verlangsamen. Die Prävention hatte versagt, der Notfall war eingetreten; jetzt waren medizinpolitische Sofortmaßnahmen und die sozialpsycholgische Bewirtschaftung des Schadenfalls gefordert, mithin die Durchsetzung eines liberalen Disziplinarregimes, das zwischen Solidaritätsappell und Strafandrohung oszillierte, das Erzwingen einer freiwilligen Gemeinschaftsaufgabe: die Schließung des öffentliches Raumes im Wege des selbstinteressierten Gehorsams.

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