Tauchsieder

Homo postcorona? Bloß nicht!

Seite 2/2

Corona und die elementare Ambivalenz des Kapitalismus

Was wir wirtschaftlichen Wettbewerb nennen, ist daher tatsächlich ein Kampf gegen die Uhr, ein Foto-Finish um Innovations- und Technologievorsprünge, ein Anrennen gegen die Wochen, Tage, Stunden, die der eine Unternehmer dem anderen enteilt ist oder hinterher hetzt: Was das eingesetzte Kapital von seinem Profit trennt, ist das Design, das Material, die Qualität der Herstellung, mit der das Produkt, in dem das Geld „arbeitet“, dem Imitat des Konkurrenten einen entscheidenden Tick voraus ist. Kapitalistisches Geld produziert daher nicht nur laufend mehr Geld und Güter, sondern gleichsam mitlaufend den Sachzwang, sich und die Güter im Dauermodus der Vermehrung und Beschleunigung zu bearbeiten, also immer mehr Geld und Güter produzieren zu müssen. Das kapitalistische Geld treibt die Welt gewissermaßen vor sich selbst her – wodurch es eine systemische Kraft und Immanenz gewinnt, die es uns als eine abstrakte Macht erscheinen lässt, als anonyme Gewalt, als repressives Regime, dem wir vermeintlich unentrinnbar ausgeliefert sind: Time is money.

Einerseits. Andererseits versteht der Ökonom Gustav Schmoller bereits 1864: Der technische Fortschritt „erhöht den Lohn der Arbeiter durch die steigende Nachfrage nach Arbeitern überhaupt und dann hauptsächlich durch die Nachfrage nach feinerer Arbeit“ – bis dem Menschen zuletzt, so Schmoller, „die rein geistige, leitende und künstlerische Thätigkeit“ überlassen bleibe. Eine Übertreibung? Sicher. Aber nur eine kleine, wie sich im Rückblick erweist – und sie ändert nichts an der überragenden Analyse, mit der Schmoller vor mehr als 150 Jahren die modernen Geld-Welt-Verhältnisse in all ihrer Widersprüchlichkeit erfasst: Den „Ausgebeuteten“ winken im kapitalistischen Beschleunigungsspiel schon früh reiche Kompensationen, sie werden mit immer neuen Wohlstandszuwächsen abgefunden.

Schmollers bahnbrechende Entdeckung: Offenbar raubt die kapitalistische Zeitökonomie den Menschen nicht nur die traditionelle, religiös fundierte Ordnung, sondern beschenkt sie auch mit zunehmend hohen Löhnen und anspruchsvollen Arbeiten, mit zunehmend wertvollen Produkten und Konsumgütern, mit zunehmend guten Schulen und Universitäten, die das allgemeine Bildungs- und Lohnniveau heben… – und durch die der Fortschritt immer neue glückliche Fortsetzungen erfährt, sich spiralförmig in die Zukunft und in die Höhe schraubt, sich wachsend und gedeihend ins schier Unendliche perpetuiert.

Das klingt mit Absicht pathetisch. Denn es soll verdeutlichen: Die intellektuelle Kränkung des Kapitalismus, die von seinen sozialistischen Gegnern bis heute nicht verwunden ist, besteht darin, dass nicht nur seine Kritik die Nebenkosten von Anfang an begrenzt und die Menschen vor der „Monetarisierung der Welt“ in soziale Schutzräume evakuiert, sondern dass ausgerechnet der Kapitalismus selbst sich zugleich als lernfähiges System erweist, das zunehmend mündige „Persönlichkeiten“ ausbildet und zivilisatorisch stabilisiert, ja: Arbeitern und Angestellten überhaupt erst die Freiräume verschafft, sich seinem anfänglichen Diktat auch wieder zu entziehen.

Schmoller hat die elementare Ambivalenz des Kapitalismus gestochen scharf gesehen: Einerseits hat er keinen Zweifel daran, dass der „unaufhaltsame Strom“ des Kapitals „nothwendig“ auf eine „immer drückendere Ausbeutung der unteren Klassen“ hintreibt – wenn nicht das Kapital zugleich „nothwendig“ von der wachsenden „Qualität der Arbeit und der Arbeiter“ profitieren würde und an der Ausbildung eines „tüchtigen Arbeiterstandes“ interessiert wäre, der, „wenn auch der Einzelne vielleicht doppelten Lohn erhält“, so doch immer noch „eine Ersparnis für den Fabrikanten“ bedeutet: „Die Bedürfnisse Aller sind gestiegen; selbst die unteren Klassen können sich Genüsse erlauben, an die sonst kaum Fürsten und Könige denken konnten. Die Kleidung, die Nahrung, die Wohnung hat sich überall gebessert, die Ausgaben für höhere, geistige und sittliche Zwecke sind wenigstens in den Mittelklassen schon bedeutende Posten der Familienbudgets…“

Der theoretische Grund für die Ambivalenz des Kapital(ismu)s ist übrigens denkbar einfach: Unter allen Gegenwartskondensaten ist allein Geld nicht nur auf Zeit bezogen, sondern in der beschleunigten Moderne auch zunehmend problematisch mit ihr verschwistert. Beide, die Zeit und das Geld, sind abstrakt, indifferent, flüchtig, relational; weder gibt es „die Zeit“ noch „das Geld“, beide sind als „reine Zeit“ und „reines Geld“ unverfügbar, beide können zugleich reichlich vorhanden und doch stets knapp sein - zwei Ressourcen, die man verlieren, investieren, einteilen, verschwenden, sparen und gegeneinander aufrechnen kann: Wer knapp an Geld ist, muss Zeit investieren, um Geld zu verdienen (oder zu sparen). Wer aber knapp an Zeit ist, kann Geld investieren, um Zeit zu gewinnen. Und das heißt: Weil Zeit Geld sparen kann und weil Geld Zeit sparen kann, können Zeit und Geld in der Moderne nicht etwa gewonnen und verloren, sondern immer nur einander abgetrotzt werden.

Das Erfolgsgeheimnis des Kapitalismus besteht nun darin, dass er nicht nur zunehmend viel Geld in knapper Zeit, sondern umgekehrt auch wenig Zeit mit reichlich Geld ertragreich bewirtschaften kann: „Time is money“ ist nur die halbe Wahrheit über den Siegeszug des schnellen Geldes im Kapitalismus; zum Rest der Wahrheit gehört, dass die gewonnene (Frei)zeit durch erspartes und ausgabebereites Geld zu buchstäblich angereicherter Zeitverbringung avanciert: Money is time! So wie Tempo, Unrast, Dynamik durch optimierte Produktivität, Konkurrenzkampf und Zinsprinzip, durch getaktete Arbeit, Innovationsdruck und „arbeitendes“ Geld Imperative des modernen Wirtschaftens sind, so sehr erlaubt uns ausgerechnet die unentrinnbare Faktizität des kapitalistischen Beschleunigungsgesetzes, der zufolge alle Ökonomie notwendig Zeitökonomie ist, ihr nach Dienstschluss eben doch zu entrinnen.

Die Stechuhr ist daher eine zentrale, vielleicht die wichtigste Metapher des Kapitalismus: Anders als etwa das Fließband erzählt sie nicht nur die Geschichte des Kapitals, also die Geschichte von Ausbeutung, Akkord und kapitaler Produktivitätssteigerung, sondern auch die Geschichte seiner konsumistischen Expansion, genauer: die unglaubliche Erfolgsgeschichte vom leicht verbrennbaren „Verbrauchskapital“, das dem Arbeitnehmer als frei verfügbares Einkommen zur Steigerung seines feierabendlichen Komforts zur Verfügung steht – und das die Dynamik des Kapitalismus nicht etwa hemmt, sondern auf die Wohlstandsspitze treibt. Die Stechuhr sprengt Benjamin Franklins Diktum von der Zeit- als Geldverschwendung: Sie spaltet unser Zeit- und Geldverhältnis sinnbildlich auf in ihre beiden modernen Grundmodi – verliehene Zeit (Arbeitszeit) und arbeitendes Geld (Kapital) versus verwendbare Zeit (Freizeit) und verzehrendes Geld (Konsum) – und sie symbolisiert die pekuniäre Sensation, dass auch arbeitslose Zeit den Wohlstand fördert, dass Geld auch als Verjubeltes seinen ökonomischen Wert steigert, dass die Lust an seiner Verschwendung den Fortschritt treibt – und dass auch Unkosten die Prosperität einer Gesellschaft fördern.

Kein Wunder also, dass sich die meisten Menschen nicht von soziologisch grundierter Kapitalismus- und Gesellschaftskritik einfangen lassen – und die bleiernen Coronamonate so schnell (!) wie möglich hinter sich bringen wollen. Sie bekommen mit, dass heute mehr und mehr „Unkosten“ erfolgreich bewirtschaftet werden (CO2-Preise). Sie wissen, dass Innovationsfortschritt und Produktivitätssteigerungen mit gewaltigen Frei-Zeit-Gewinnen einhergehen. Und sie haben auch gar kein Problem damit, in 35 wöchentlichen Berufsstunden eine Welt objekthaft technisch zu bearbeiten, solange ihnen mindestens 80 weitere zur Verfügung stehen, während der sie zu ihr resonanzhafte Beziehungen aufbauen können: mit Freunden und der Familie, in Kirchen, Museen, Stadien, Konzertsälen – am Meer, auf Seen und in den Bergen.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%