Tauchsieder
Quelle: REUTERS

Däumeln für Doofe

Robert Habeck twittert nicht mehr. Christian Lindner wetteifert mit Franck Ribéry. Und alle finden Nazis gemein. Die „sozialen Medien“ verkommen zum Dschungelcamp für Meinungsmacher.

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Das Drama des spätmodernen Instant-Journalismus, auf einen Nenner gebracht: Die Urteilsfähigkeit hat sich von der Urteilssicherheit entkoppelt. Wenn eine Mehrheit der Leser steile Meinungen höher prämiert als wägende Analysen, den Holzschnitt teurer schätzt als die fein abgestufte Bleistiftzeichnung, haben keine Fragezeichen Konjunktur, sondern Ausrufezeichen – dann löst sich das Urteil nicht nur von Nachricht und Argument, sondern dann lösen sich Urteil, Nachricht und Argument auch in Ressentiment und Vorurteil auf.  

Vergangene Woche testete der alles schnellbemeinende Echtzeit-Journalismus einmal mehr neue Tiefstände. Noch bevor die Hintergründe des Hackerangriffs auf Politiker und Journalisten bekannt waren, skandalisierte Julian Reichelt („Bild“) das Thema zum Cyberkrieg- und Spioanage-Schocker: Die Bewertung des Ereignisses (Russland untergräbt die Demokratie…) muss in der Redaktion buchstäblich „auf Taste“ gelegen haben, weil der Chef von ihr wohl vor allem verlangt, jedweden Halbnachrichtenschnipsel in Sekundeneile mit seinem unerschöpflichen Meinungsvorrat kurzzuschließen. Zweifellos: Seit dem Siegeszug des Internet und der Sozialen Medien ist eine neue journalistische Stilform entstanden: eine Art Preemptive-News-Management auf der Basis stabiler Präjudize.

Einer zweiten Art der Entkopplung von Urteilsfähigkeit und Urteilssicherheit begegnen wir im Fall Robert Habeck: Der Grünen-Vorsitzende hat blöderweise zum zweiten Mal in einem Post oder Tweet den Eindruck erweckt, erst mit der Regierungsbeteiligung der Grünen könne sich Deutschland zur Demokratie vollenden – und sich anschließend selbst vom Netz genommen, seinen Rückzug aus den Sozialen Medien Facebook und Twitter erklärt. Seine Erklärung: Twitter färbe auf ihn ab. Die Smartphone-Däumelei raube ihm Nachdenkzeit. Die Möglichkeit des schnellen, flugs gemochten, belobigten und verbreiteten Kurzbemeinens triggere Aggression, Lautstärke, Polemik und Zuspitzungslust: „Offenbar bin ich nicht immun dagegen.“

Natürlich hätte man es mit einem glossierenden Hinweis auf die übliche Hybris der Grünen bewenden lassen können: Wohl kein Zufall, dass der vernunftstolze Habeck sich und die Seinen überschätzt, und natürlich: Auch in punkto Buße und Sündenstolz sind die Grünen die Größten, wie immer. Denn ansonsten twitterte und postete Habeck zum Abschied nur, was alle Forschung bestätigt, jeder Twitterer von sich selbst kennt, das denkbar Trivialste und Offensichtliche – und erntete dafür dennoch die hohnhohlsten Guillotinen-Urteile der Selbstgewissen und Urteilssicheren: Ist so eine Memme überhaupt politiktauglich? Will Habeck die Sozialen Netzwerke etwa den Rechtspopulisten überlassen? Der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen nennt diese „Sofort-Skandalisierung von Stilfehlern“ ein „Lehrstück furioser Mitleidlosigkeit“.

Mit schwerwiegenden Folgen. Denn erstens verengt der meinungsmoralische Jakobinismus der journalistischen Eckensteher die Räume für wägend-wagende Polit-Querdenker, ja: fördert deren Demission, weil diese Politiker im Meinungskrieg notwendig zwischen alle Fronten geraten, von allen Seiten wie Fahnenflüchtlinge verunglimpft werden. Er vergrößert damit zweitens die Gruppe der eingepassten Angsthasenpolitiker, die die Öffentlichkeit umso stärker meiden, als sie die Erfahrung machen, dass man sich über ihre Eingepasstheit und Angsthasigkeit lustig macht, sobald sie die Arenen der Öffentlichkeit einmal doch betreten. Und er prämiert drittens chefrezensierende, also quasijournalistische Politsternchen wie Christian Lindner, die ihre Fans zwecks Resonanzbestätigung und Reichweitensteigerung laufend mit branchenüblicher Kommunikationsfrischware versorgen.

Wenn der Proleten-Fußballer Franck Ribéry seinen Facebook-Freunden ein vergoldetes Steak auftischt und der popliberale Christian Lindner seinen Followern eine kabarettrhetorisches Praline reicht, so ist das vom Prinzip her dasselbe: Zielgruppencatering. Der Vorteil: Grenzüberschreitungen werden von der Peer-Group nicht sanktioniert. Kein Bayern-Fan nimmt Franck Ribéry sein Goldsteak krumm, solange er demnächst den FC Liverpool aus der Champions League kegelt. Und kein Liberaler zeiht Lindner der üblen AfD-Rhetorik („Klimanationalismus“, „Volksnetz“), solange man sich dreikönigsselig über eine grüne Verbotspartei und eine analoge Union erheben kann.

Man muss die so genannten „Social Media“ daher als stark fragmentierte, digitalisierte Meinungsmärkte verstehen, an denen zunehmend weniger substanzielle Argumentationswerte gehandelt werden – und zunehmend viele fiktionale Steilthesenderivate: Während der mühsame Austausch von guten und besseren Gründen nur langfristige Erkenntniserträge verspricht, wirft der anonymisierte Hochgeschwindigkeitshandel mit gestückelten Wahrheitsresten und gehebelten Provokationen kurzfristig Maximalgewinne ab. Es versteht sich von selbst, dass diese „Gewinne“ nicht sozialisierbar sind im Sinne eines geteilten Erkenntniswachstums, das allen Marktteilnehmern zugute kommt. Im Gegenteil: Die „Gewinne“ werden als persönlicher Zuwachs an Aufmerksamkeit privatisiert – mit Blick auf die Peer Group der Gleichgesinnten, von der man „geliket“ und „verlinkt“ werden will.

Anders gesagt: Wir haben es nicht mit Plattformen des Meinungsaustauschs zu tun, sondern mir Plattformen der Meinungsbestätigung. Entsprechend dienen Lindners Neologismen „Klimanationalismus“ und „Volksnetz“ auch nicht der allgemein anschlussfähigen Verdichtung von Information, so gerne er sich das auch einredet, sondern der exklusiv-abgrenzenden Identitätsbildung (und Diskreditierung des politischen Gegners). Sie gelingt besonders gründlich, wenn man sich aus der gesamtgesellschaftlichen Diskussion ausklinkt und sich mit (s)einer Zielgruppe solidarisch erklärt. Es geht dann in den Paralleluniversen der Weltanschauungen nur noch darum, normsetzende Lesarten der sozialen Wirklichkeit gegeneinander in Stellung zu bringen und gegebenenfalls auch durchzusetzen - aber nicht mehr darum, die soziale Wirklichkeit analytisch zu durchdringen. Konkret gesprochen: Sind die Grünen einmal als „Verbotspartei“ markiert, Elektroautos als „sauber“, 40 Mikrogramm Stickstoffoxid als „schädlich“ oder der Kapitalismus als „böse“, kann man sich das Nachdenken über die Welt ersparen – und sich von „seinen“ Anklatschern in den Sozialen Medien mitreißen lassen.

Das gilt übrigens auch und gerade für die anspruchsloseste Form der Selbsterhebung: für Netzaktivisten und Medienschaffende, die sich etwa aus „Solidarität“ mit einer schuldlos verunglimpften Kollegin entschlossenen hinter dem Hashtag #Nazisraus versammeln: die Karikatur eines politischen Statements – genauso könnte man #scheißwetter für ein Argument gegen den Klimawandel halten. Dass Habeck sich für derlei Unsinn nicht mehr interessiert – wer wollte es ihm verdenken?

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