In einer Demokratie sind die Menschen jederzeit so frei, die Demokratie abzuschaffen. Alles, was es dazu braucht, sind genügend Tolerante, die den Intoleranten aufgrund ihrer Toleranz ermöglichen, ihre Intoleranz durchzusetzen – auf diese prägnante Formel hat es Karl Popper mal gebracht. Versteht man unter Demokratie allein die Durchsetzung des Mehrheitswillens, also kein permanentes Verfahren zum Konfliktausgleich, heißt das: Es braucht in der Demokratie nur eine minimale Majorität, um ihr auf demokratischem Wege ein Ende zu bereiten. Und manchmal nicht mal das.
In den USA kommt es bekanntlich vor, dass Kandidaten zu Präsidenten gekürt werden, die weniger Zustimmung als ihre Mitbewerberin erhalten. Und für die NSDAP Adolf Hitlers optierte bei der Reichstagswahl am 6. November 1932 nur ein knappes Drittel der Wähler – und doch reichlich genug für die Nationalsozialisten, um der Weimarer Verfassung vier Monate später mit dem „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ („Ermächtigungsgesetz“) den Todesstoß zu versetzen: formalrechtlich korrekt, im Rahmen der Verfassung, von einer Zweidrittelmehrheit im Parlament gedeckt.
Alles, was es zur Abschaffung der Demokratie damals brauchte, waren drei Paragrafentürchen zur Diktatur, die die Nazis entschlossen aufstießen: Artikel 25 der Weimarer Verfassung räumte dem Reichspräsidenten die Befugnis ein, den Reichstag aufzulösen. Artikel 48 erlaubte dem Reichspräsidenten, im Notverordnungsstil zu regieren. Artikel 53 dekretierte, dass der Reichspräsident den Kanzler ernennen und entlassen darf. Drei Paragrafentürchen zur Diktatur – natürlich war das nicht alles, was es zur Abschaffung der Demokratie brauchte. Das Aufstieg der NSDAP ist auf viele (soziale, ökonomische, kulturelle, psychologische, politische) Gründe, Ursachen und Konstellationen zurückzuführen; die NSDAP schaltete die Demokratie mit Gewalt, Terror, Demagogie und Einschüchterung ab. Aber Hitler profitierte eben auch entscheidend von den „autoritären Lücken“ der Weimarer Verfassung. Er erhielt am 30. Januar 1933 nicht mehr Machtbefugnisse als seine Vorgänger Brüning, von Papen und Schleicher. Und eignete sich am 23. März 1933 mit dem Segen des Parlaments die diktatorische Gewalt an, Gesetze und Verordnungen nach Belieben zu erlassen.
Es schadet sicher nicht, sich mit dem Politikwissenschaftler Adam Przeworski historischer „Krisen der Demokratie“ zu erinnern („Krisen der Demokratie“, editoion suhrkamp, 2020), um Ähnlichkeiten und Unterschiede zu heutigen Demokratien und ihrer Krisenanfälligkeit herauszupräparieren. Die wochenlange Weigerung Donald Trumps, das Ergebnis der US-Präsidentschaftswahlen anzuerkennen, die Unfähigkeit der Republikanischen Partei, sich gegen den Trump und für die Demokratie auszusprechen, schließlich der so genannte „Sturm aufs Kapitol“ – das alles ist schließlich gerade mal drei, vier Monate her. Viele Amerikaner und die meisten Europäer freuen sich über trumplose Nachrichtenabende und darüber, dass der Kelch einer zweiten Amtszeit an ihnen vorübergegangen ist.
Aber sind damit auch schon die vielen Krisendiagnosen der Politikwissenschaftler überholt, die in den vergangenen Jahren vor einer „Rückentwicklung“, „Dekonsolidierung“ und „Regression“ der Demokratie gewarnt haben, vor dem Aufstieg des Rechtspopulismus und einer „Polarisierung“ der Gesellschaft, vor der Delegitimierung nichtmajoritärer Institutionen, Verfahren und Prozeduren (EU, Zentralbanken, Medien) – vor einer Vertrauenskrise der Demokratie? Besteht jetzt nicht umgekehrt sogar das Risiko, dass wir mit der „Normalisierung“ der Lage in den USA und dank eines moderaten Wiedererstarkens der politischen Mitte in Europa dem Gefühl erliegen, noch einmal davongekommen zu sein – dass wir uns das Nachdenken über die Fragilität (und Optimierung) unserer Demokratie ersparen?
Es gibt im Kern zweimal zwei Erklärungsmuster für den Aufstieg des Populismus und die aktuelle „Krise der Demokratie“; sie werden inzwischen von fast allen Krisendeutern referiert und als unzureichend markiert, um einen eigenen, dritten Ansatz ins Spiel zu bringen. Auf der einen Seite stehen die Theoretiker primär sozioökonomischer Ursachen: Sie ziehen die „Elefantenkurve“ des Ökonomen Branko Milanović heran, verweisen auf die Verteilung der Einkommenszuwächse weltweit und machen darauf aufmerksam, dass die Globalisierung materielle Gewinner und Verlierer hervorbringt: Zu den Gewinnern zählen nach Milanović Angehörige der Mittelschicht in den Schwellenländern und Reiche allerorten; zu den Verlierern vor allem die (untere) Mittelschicht in den klassischen Industrieländern.

Je nach politischer Präferenz argumentiert ein Teil der „materiellen Demokratietheoretiker“ (nennen wir sie Globalisierungstragiker), dass die zunehmende Ungleichheit in reichen Ländern das unvermeidliche Nebenprodukt einer globalen Wohlstandsexpansion ist, die sich der internationalen Liberalisierung der Güter- und Kapitalmärkte verdankt – während andere (nennen wir sie Globalisierungsmelancholiker) beklagen, das Besitzbürgertum habe den demokratischen Klassenkompromiss in der Reagan-und-Thatcher-Ära aufgekündigt und den sozialen Miteinander-Aspekt der Marktwirtschaft mit der Zerschlagung von Gewerkschaften und der Aufhebung von Kapitalverkehrsbeschränkungen einem asozialen Bereicherungsregime für die Wenigen geopfert. So oder so: Theoretiker primär sozioökonomischer Ursachen argumentieren, dass materielle Globalisierungsverlierer anfällig sind für die Parolen von Rechtspopulisten und dass finanzielle Sorgen Ressentiments befestigen, die sich umso leichter in xenophobischen Sündenbockfantasien entladen, seit Zuwanderer, Migranten und Asylsuchende nach Europa strömen – und dabei auf die Großzügigkeit derselben Sozialstaaten hoffen dürfen, die einheimische Arbeiter mit der Losung „Leistung muss sich wieder lohnen“ ehedem zum Dienstleistungsproletariat degradiert haben.
Auf der anderen Seite gibt es Theoretiker primär soziokultureller Ursachen für die Krise der Demokratie: Ihnen zufolge punkten Rechtspopulisten vor allem als Sammelbecken für antipluralistische Weltanschauungen, als „kulturelle Backlash-Bewegung“ wider die Liberalisierung und Egalisierung der Lebensstile und -einstellungen – und weiß Gott, es ist leicht, auf einem AfD-Parteitag oder einer „Querdenker“-Demonstration, in einschlägigen Publikationen oder in den Sozialen Medien eine Hass- und Verachtungsbereitschaft anzutreffen, die sich etwa gegen Frauen, Schwule, Schwarze und das „linksgrün Versiffte“ entlädt, die das Permissive, Fremde, Plurale, Andere, Vermischte verabscheut – und dagegen die Schimäre des Leitkulturellen und Identitären, das Grenzbewusste, Nationale, Völkische, das Purifizierte und Reine in Stellung bringt.
Auch unter den Theorien primär soziokultureller Gründe gibt es vor allem zwei Varianten: Die eine, nennen wir sie „Terra-Theorie“ (etwa Bruno Latour, Carlo Strenger), akzentuiert eine Bruchlinie entlang der binären Unterscheidung Heimat/Heimatlosigkeit. Ihr zufolge stiften Rechtspopulisten ein Bündnis zwischen bürgerlichen Gegnern der Globalisierung und den zurückfallenden Fraktionen der traditionellen Mittelschicht, um als erdverbundene „Somewheres“ Stimmung gegen die „Anywheres“ einer international-liberalen Elite zu machen, die buchstäblich die Bodenhaftung verloren hat. Die von Konferenz zu Konferenz jettenden Globalisten können und wollen in dieser Lesart nicht mal verstehen, dass sie für die Lösung großer Menschheitsprobleme nicht auch noch gelobt werden von den Immobilen- und Schollenverbundenen, die sich um den Zerfall traditioneller Werte, „nationaler“ Kulturen und Bildungsgüter sorgen.
Die andere, nennen wir sie „Dignitas-Theorie“ (etwa Michael Sandel, auch Francis Fukuyama und Axel Honneth), akzentuiert eine Bruchlinie entlang der Dichotomie Respekt/Respektlosigkeit. Danach lassen erfolgreiche Globalisten in Aufsteigerberufen vor allem Anerkennung und Wertschätzung gegenüber denen vermissen, die ein Leben lang Deutschland gebucht haben und ihren Misserfolg noch dazu sich selbst zuschreiben, weil sie der meritokratische Ideologie auf den Leim gegangen sind, ihr Erfolgscredo verinnerlicht haben – und sich selbst die Verantwortung dafür zuschreiben, etwa als Bierkistenschlepper auch für die minimalste Dankesbezeigung eines Dachgeschossbewohners dankbar zu sein.