Tauchsieder

Deutschland im Wohlstandsstress

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Das ökonomisch wichtigste Land des Kontinents

Keine Klagen also gegen den Brüsseler Entscheid, erst recht keine Klage. Und alle Konzentration auf das Wesentliche – auf die entscheidende Frage, ob und wie Deutschland seinen sich selbst auferlegten Stresstest bestehen kann und wird. 

Gelingt die Transformation, werden die Deutschen in acht Jahren in einem anderen Land leben: verspargelt mit 16000 riesenhaften Windrädern und durchschnitten von mindestens zwei gewaltigen Nord-Süd-Stromtrassen, optisch geprägt von vielhektargroßen Photovoltaik-Anlagen, deren Flächenblau sich in das Gelb des Rapses, das Grün des Waldes und das Braun der Felder fügt - und mit Dörfern und Städten, deren Dächer nicht mehr ziegelrot um Kirchen gruppiert sind und die Landschaft zieren. Gelingt die Transformation nicht - nun, sie muss gelingen. Die Energiewende ist ein nationalpolitisches Großexperiment bei laufendem Betrieb. Das ökonomisch wichtigste Land des Kontinents, das noch dazu in besonderem Maße von seiner industriellen Basis zehrt, riskiert ohne Not seine Energiesicherheit. Das ist die Fallhöhe. Versuch – und bloß kein Irrtum! 

Zumal das Experiment auch zur Belastungsprobe für die (parlamentarische Parteien-)Demokratie und die föderale Verfasstheit Deutschlands wird. Denn wenn Habeck am Dienstag seine Eröffnungsbilanz vorlegt, wird seinem Konzept ein Ton der Alternativlosigkeit zugrunde liegen, von einem autoritären Durchregierungsgestus geprägt sein. „Wenn die erneuerbaren Energien nun sicherheitsrelevant werden, müssen die verschiedenen Güter anders abgewogen werden“, sagt Habeck – und meint damit eine Art Prärogative des (Bundes-)Klimaministers gegenüber allen anderen Zielen und (Landes-)Interessen, die er für nachrangig erachtet.

Habeck will nicht nur das Planungs- und Genehmigungsrecht für Erneuerbare Energien beschleunigen, eine Solarpflicht für die Dächer von Gewerbeimmobilien durchsetzen und Abstandsregeln zwischen Windkraftanlagen und Wohnbauten lockern, sondern etwa auch den Artenschutz redefinieren, also nicht mehr einzelne Vögel und Kröten (vor Ort), sondern nurmehr den Bestand insgesamt gesichert wissen, also die Klagemöglichkeiten von Umweltschützern einschränken. Vor allem aber drängt er (laut Koalitionsvertrag) darauf, dass die Länder künftig zwei Prozent der Flächen für Erneuerbare Energien ausweisen. Aber warum sollte Markus Söder, nur um ein Beispiel zu nennen, ihm mit Blick auf die bayerischen Landtagswahlen im Herbst 2023 den Gefallen tun, das Voralpenland mit Windkraftanlagen zuzustellen?   

Die nächsten acht Jahre werden daher auch zu einem politischen Kulturkampf zwischen denen, die vor allem der Union und der FDP vorwerfen werden, Deutschland durch jahrzehntelange Ambitionslosigkeit zum überstürzten Umbau seiner Strom- und Energieversorgung gezwungen zu haben (Recht haben sie) und denen, die vor allem den Grünen vorwerfen werden, das Tempo und die multiplen Risiken der „Energiewende“ unnötig zu forcieren (Recht haben auch sie). Lassen sich die Energieverluste eines solchen Kulturkampfes vermeiden? Es wäre viel gewonnen, wenn die Union sich nach ihrem energie- und verkehrspolitischen Dauerversagen ein einjähriges Einspruchsmoratorium auferlegte. Und wenn die Grünen akzeptierten, dass es auch in Zeiten des ausgerufenen „Klimanotstands“ immer politische Alternativen gibt. Diesen Alternativen kann man sich aus guten Gründen verweigern. Aber man sollte diese Verweigerung nicht mit einem dekretierenden Durchregierungsstil des Unbedingten und Unvermeidlichen camouflieren.

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Es reicht vollkommen, in den nächsten Jahren die stillen Leiden des jungen Wirtschaftsministers dauernd dramatisiert zu sehen – zu erleben, wie Robert Habeck immer wieder als ein Hybrid aus Atlas, Sisyphos und Seneca auf die Berliner Politikbühne treten wird: ein tragischer Held, der die ganze Last der Welt trägt, immer wieder Steine vergeblich den Berg hinauf rollt, sich aber allen Widerständen zum Trotz mannhaft seinem Schicksal fügt, Deutschland den Weg in die Klimaneutralität zu weisen. Denn so viel ist tatsächlich sicher: An diesem Weg führt kein Weg vorbei.

Mehr zum Thema: Die Stromtrasse Suedlink ist das Kernprojekt der Energiewende. Doch sie ist um Jahre im Verzug und schon zu schmal. Was ist da so schwierig? Ein Besuch im Leinetal.

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