Bestimmt die Coronapandemie womöglich die Schlussphase des Bundestagswahlkampfes? In den vergangenen drei, vier Monaten deutete wenig darauf hin. Plötzlich war genug Impfstoff da. Die Impfbereiten balgten sich um die Spritze. Die Inzidenzen sanken. Intensivmedizinerinnen und Pfleger reichten Urlaub ein. Ministerpräsidentinnen und Länderchefs durften wochenlang voneinander Abstand nehmen. Doch nun ist das Thema zurück. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) erhöhen den Druck auf Impfskeptiker – und sorgen dafür, dass Corona sich abermals in den unendlichen Weiten der politischen Diskurswüste ausbreitet. Aber warum bloß? Zu gewinnen gibt es dabei nichts. Zu verlieren hingegen sehr viel.
Zunächst: Das Thema Corona hat es im „Wahlkampf“ so leicht wie die Deltavariante in einem Bingo-Club ungeimpfter Altenheimbewohner. Es füllt ein Vakuum. Das Ende des fossilen Industriezeitalters und der wohlstandswahrende Aufbau einer klimaneutralen Weltwirtschaft; die Systemkonkurrenz zwischen Europa und China und die monolithische Macht von Plattformkonzernen; die uferlose Ausgabenpolitik der Regierungen weltweit und das postliberale Dogma sich doppelt und dreifach rentierender Schulden; die vermögenszementierende Geldpolitik der Notenbanken und die sozialen Ausgleichs- (und Enteignungs)pläne der politischen Parteien – wer diese großen Fragen konsequent meidet oder abmoderiert (Armin Laschet), sie radikal vereinseitigt (Annalena Baerbock) oder die richtigen Antworten allein sich selbst und seiner philosophenköniglichen Weisheit zutraut (Olaf Scholz) – der darf sich nicht wundern, dass am Ende irgendein momentbewegendes Nebenthema den Wahlkampf diktiert.
Merkwürdig nur, dass ausgerechnet die Union dem Coronathema in der vergangenen Woche nicht nur mehr Platz als nötig einräumte, sondern es auch noch rhetorisch anfeuerte. Dabei schien man vor ein paar Wochen noch froh, dass die Deutschen nicht mehr von missglückten Impfkampagnen und Maskenskandalen sprachen, dass die Medien sich kaum mehr mit fehlenden Luftfiltern und Testbetrügereien, analogen Schulen und „MPK-Runden“ beschäftigten, dass die Virologen in den Talkshows auf dem Rückzug waren und man beinahe schon vergaß, wer nochmal Christian Drosten war.
Und tatsächlich: Nach anderthalb Jahren der hohen gesundheitlichen Risiken vor allem für ältere und vorerkrankte Menschen, nach 18 Monaten der Existenzängste, Entbehrungen und Einsamkeitsgefühle, besteht für die meisten Menschen in diesen Tagen bei aller Vorsicht kein Grund mehr zur Sorge – und bei aller Sorge kein Grund mehr zur (Todes)furcht vor dem Virus. 82 Prozent der besonders gefährdeten Über-60-Jährigen sind inzwischen vollständig geimpft, mehr als 50 Millionen Deutsche insgesamt geimpft oder genesen. Die Fußball-EM fand trotz vieler Warnungen vor halbwegs vollen Rängen statt. Viele Deutsche genossen ihren Sommerurlaub in Tirol oder der Toskana. Die Berliner Philharmoniker laden wieder 2000 Zuhörer. Die Restaurants tischen auf, was ihre Küchen hergeben.
Warum also stimmen Unionspolitiker, allen voran Gesundheitsminister Jens Spahn („Impfen ist ein patriotischer Akt“) und der bayerische Ministerpräsident Markus Söder („Pandemie der Ungeimpften“), ausgerechnet in dieser Lage eine moralisch grundierte Diskussion an, die alle Ungeimpften als „Impfverweigerer“ markiert, die ihrer staatsbürgerlichen Pflicht nicht genügen – einer Pflicht noch dazu, die der Staat seinen Bürgern bisher bei jeder Gelegenheit ausdrücklich, ja: geradezu mantrahaft nicht auferlegt hat („Es wird keine Impfpflicht geben!“). Warum zetteln sie eine Diskussion an, für die es vorerst nur schwache gesundheitspolitische Gründe gibt – und die gesellschaftspolitisch ziemlich sicher mehr Probleme löst als schafft: eine Diskussion über öffentliche „2G“-Räume, die künftig nurmehr vollständig Geimpften und Genesenen, aber nicht mehr Getesteten (also Nicht-Geimpften) offen stehen sollen?
Ich habe vor zwei Wochen an dieser Stelle argumentiert, dass eine Impfung moralisch geboten ist, ein Impfpflicht hingegen nicht. Darüber lässt sich streiten. Die Tübinger Philosophin Sabine Döring etwa hat in ihrem Beitrag für die WirtschaftsWoche ganz im Gegenteil dafür plädiert, „die Bockigen, Leugner und Egoisten“ durch „strafbewehrte gesetzliche Pflichten“ dazu zu bewegen, „ihre moralische Pflicht zu tun“. (Dörings Gastbeitrag lesen Sie hier.) Worüber sich hingegen nicht streiten lässt, sind die wissenschaftlichen Grundlagen einer politischen Diskussion – oder wie es der TV-Arzt Eckart von Hirschhausen zuletzt so hübsch formulierte: „Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten.“
Im Falle der Coronapandemie liegen einige dieser Fakten auf dem Tisch, während andere noch nicht gesichert sind. Was also tun? Die Antwort: Weil Politiker in freiheitlich-demokratisch verfassten Staaten von Berufs wegen davon ausgehen müssen, dass die meisten Bürgerinnen und Bürger Gründe für die Gültigkeit ausgehandelter Regeln und Lösungen einsehen (wollen), müssen sie als Repräsentanten dieser Bürgerinnen und Bürger primär darum bemüht sein, mit diesen Bürgerinnen und Bürgern eine belastbare, faktenbasierte Diskussionsgrundlage zu finden. Anders gesagt: Politiker tun gut daran, ihr Handeln auf das Unbestrittene zu gründen – und erst in einem zweiten Schritt das weite Feld des Künftigen und Konjunktiven, des Diskutablen und Bezweifelbaren zu beackern. Und genau hier liegt das Problem: Söder und Spahn („Noch einmal durchhalten bis zum Frühjahr“) beschwören (potenzielle) Risiken als (schicksalhafte) Gefahren – und sie weisen denen, die sie für unbotmäßig halten, ex ante eine (individualisierte) Verantwortung zu für einen potenziellen Notstand des Nationalkollektivs.
Das ist, um das Mindeste zu sagen, ungeschickt. Denn sie provozieren damit allergische Reaktionen ausgerechnet bei denen, die sie für ihre Impfkampagne (noch) zu gewinnen suchen – und die nun meinen, sich noch stärker immunisieren zu müssen gegen das statistisch Evidente und wissenschaftlich Unbezweifelbare: Impfstoffe bieten einen 70 bis 90 prozentigen Schutz gegen eine Infektion.