Tauchsieder
Quelle: REUTERS

Dem Land geht es schlecht

Die Moralisierung komplexer Sachverhalte und der Triumph des Symbols über den Inhalt – Deutschland hat das politische Gespräch mit sich selbst verlernt. Mit verheerenden Folgen.

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Vor sieben, acht Jahren klangen Wut und Empörung in Europa noch progressiv – nach Revolte, Aufbruch, Neuanfang. Der Furor der Besorgten richtete sich gegen wettende Boni-Banker und Finanzmarkthasardeure, die Gewinne einstrichen und Verluste sozialisierten. Gegen eine Politik, die mit jedem neuen Kredit kein Stück Zukunft mehr ins Heute zauberte, sondern eine Gegenwart abstotterte, die ihre künftigen Potenziale bereits verbraucht hatte. Und gegen ein „System“, das die Renditen leistungslos Vermögender prämierte, während die schmalen Einkommen der von Inflation und Nullzins geplagten Lohnabhängigen schmolzen.

Viele Bürger, Angestellte, Selbstständige und Leistungsträger in den Demokratien und Marktwirtschaften des Westens beschlich damals das demütigende Gefühl, dem Geldvermehrungszwang des Kapitalismus und der Globalisierung als anonym waltenden Kräften ausgeliefert zu sein – verspottet noch dazu von Top-Managern und Leichtliberalen, die als Stellvertreter des herrschenden Denk-Durchschnitts Selbstertüchtigungsimperative in jedes Mikrofon bellten, das ihnen von weiten Teilen der Wirtschaftspresse jahrzehntelang dienend entgegengestreckt wurde. 

Für diese Menschen klang Friedrich Hölderlins „Komm! Ins Offene, Freund!“ nicht mehr verheißend, sondern wie Hohn. Und sie griffen damals zu Zornbüchlein zweier alter Männer, die in pamphlethafter Form zum Aufstand wider die „Herrschaft des Geldes“, den leistungslosen Vermögenszuwachs und den Siegeszug der desengagierten Vernunft bliesen. „Empört Euch!“, forderte der damals 93-jährige französische Ex-Diplomat Stephane Hessel. Und der britische Historiker Tony Judt hinterließ der Jugend ein „Traktat über die Unzufriedenheit“, einen „Wegweiser für Ratlose“, weil er wusste: „Dem Land geht es schlecht“. 

Heute geht nicht nur Großbritannien, den USA und vielen Ländern in Europa, sondern auch Deutschland noch viel schlechter. 

Erstens: In den Großstädten der Bundesrepublik hat sich der Abstand zwischen Habenden (Immobilieneigentümern) und Nicht-Habenden (Mietern) in den vergangenen Jahren fast uneinholbar vergrößert. Wer hat, dem wird (immer mehr) gegeben; wer nicht hat, dem wird (immer mehr) genommen. 

Zweitens: Die preismanipulierende Nullzins-Politik der Notenbanken fräst sich wie eine soziale Demarkationslinie durch die Gesellschaft. Die (Super-)Reichen werden reicher, solange die Europäische Zentralbank dafür sorgt, dass Geld Geld heckt; für die Armen und Ärmeren ändert sich nichts, weil der Staat laufend neue Kompensationszahlungen beschließt, die die Teuerung auffangen. Aber die überwältigende Mehrheit der 2500 bis 5500-Euro-Verdiener im Land teilt sich zunehmend auf in (oft ältere) Besitzbürger mit kleinem Vermögen oder Aussicht auf eine Erbschaft (Normalverdiener mit Aufwärtsblick) – und (oft jüngere) Sparstrampler, die ihren Lohn verkonsumieren müssen (Normalverdiener mit Abwärtsblick).

Drittens: Die Konjunkturdaten zeigen südwärts, viele Konzerne schmelzen ihre Arbeitszeitkonten ab und kündigen den Abbau von Arbeitsplätzen an, in der Industrie macht sich „Alarmstimmung“ breit, so das KfW-ifo-Mittelstandsbarometer. Offenbar neigt sich der Zehn-Jahres-Boom dramatisch seinem Ende entgegen. 

Viertens: Das politische Vakuum, das Angela Merkel hinterlässt, vergrößert sich mit jedem weiteren Tag ihrer Amtszeit. Merkel hat das Kanzleramt fast 14 Jahre lang quasipräsidial zu einer Nichtregierungsorganisation umgebaut, zu einer Agentur der organisierten Norm- und Anspruchslosigkeit, die dem Allernötigsten asymmetrisch demobilisierend hinterher amtiert und das Land fast schon lächerlich lustlos bewirtschaftet. Mit den wenigen Überzeugungen, die sie besaß, lag sie verlässlich daneben.

Merkel hat ihren Vorgänger Gerhard Schröder abgekanzelt, als der sich gegen den Irak-Krieg aussprach („Schröder spricht nicht für alle Deutschen“) – und damit eine frühe Chance für eine überfällige Neujustierung und Emanzipation der europäischen Sicherheitspolitik vertan. Sie hat die Deutschen vor zwölf Jahren druckbeatmet mit Steuersenkungsreform- und Deregulierungspathos – und die Banken auf Kosten von Steuerzahlern gerettet. Sie hat für den Ausstieg aus dem Atomausstieg plädiert – um nach Fukushima einen rettungslos überstürzten Ausstieg aus dem Ausstieg des Ausstiegs zu initiieren. Sie hat auf Selbstverpflichtungen der Wirtschaft gesetzt, die Autoindustrie in Brüssel lobbyiert – und es sich mit dem Dieselskandal danken lassen. Sie hat gemeint, Deutschland mit dem Dublin-Abkommen Migranten vom Leib halten zu können – und Zehntausende ungeprüft ins Land durchgewunken. Sie hat den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron im Regen stehen lassen mit seinen Vorschlägen zur Vertiefung der Europäischen Union – und das Thema „Europa“ erst ernstgenommen, nachdem US-Präsident Donald Trump es ihr durch seine America-first-Politik nahelegte. Die Liste der Versäumnisse ließe sich lange fortsetzen: Bildung, Digitales, Klima. Es ist, alles in allem, eine Bilanz des Grauens.

Fünftens: Angela Merkel hat auch den Aufstieg der AfD begünstigt. Der Abstieg der Volksparteien und die Wut „besorgter Bürger“, die verbale Enthemmung, die verbreitete Xenophobie und das ausgehöhlte Vertrauen in die Institutionen und Funktionseliten unserer Demokratie – das alles hat viel mit der Banken- und Griechenlandrettung, mit der Euro- und Flüchtlingspolitik, auch mit den Echokammern der Sozialen Medien zu tun. Vor allem aber mit dem Verschwinden aller Politik unter Merkel – mit der systematischen Enttäuschung aller Minimalerwartungen, die man als Wähler seiner Regierung entgegenbringt. Diese Minimalerwartung ist, dass „Berlin“ in einem kerngesunden Land am „Wohlstand für alle“ arbeitet. Das ist erkennbar nicht gelungen, wie ein flüchtiger Blick auf Mieten, Renten, Einkommen zeigt. Stattdessen ist das Vertrauen der Deutschen in „Berlin“ in den vergangenen 14 Jahren nicht gewachsen, sondern gesunken. Obwohl das Land so wenig Arbeitslose zählt wie lange nicht, so viele Beschäftigte zählt wie nie zuvor. Was für ein Kunststück!

Und die AfD? Sie dürfte in einigen Wochen mit Ergebnissen jenseits der 20 Prozent in die Landtage von Brandenburg, Thüringen und Sachsen einziehen – obwohl jeder Deutsche inzwischen weiß, was offensichtlich ist: Nicht alle AfD-Wähler sind rechtsradikal. Aber alle AfD-Wähler wählen eine rechtsradikale Partei, deren Sprecher offen Raubbau an den Grundlagen unserer Demokratie betreiben.

Sechstens: Der Raubbau an der Demokratie wiederum wird von den demokratischen Akteuren selbst begünstigt, und zwar in mindestens dreierlei Hinsicht: durch die Infantilisierung politischer Diskurse, den Triumph des Symbols über den Inhalt und die Moralisierung komplexer Sachverhalte.

Das „Und“ geht verloren

Infantilisierung: Die Bundesregierung vertreibt ihre Vorhaben im Stile einer Werbeagentur, verabschiedet das „Gute-Kita-Gesetz“, das „Starke-Familien-Gesetz“, das „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ im Sendung-mit-der-Maus-Stil. Verkehrsminister Andreas Scheuer youtubet andauernd Kolossalblödsinn. Robert Habeck, Vorsitzender einer Partei, die in Umfragen 25 Prozent der Stimmen erhält, fürchtet sich bei jeder Gelegenheit vor einer Kanzlerkandidatur. Und die SPD wählt ihre Vorsitzenden, um sich in 27 Regionalkonferenzen endgültig wegzudiskutieren – oder umgekehrt?

Symbolpolitik: Die FDP will keine SUV besteuern, die Grünen vielleicht Rindfleisch und Kerosin, die CSU findet Scooter supercool und bremst ein Tempolimit aus. Die Regierung beschließt Fahrverbote, Rot-Rot-Grün in Berlin einen Mietendeckel, und die SPD will sich von Trump nicht vorschreiben lassen, mehr Geld für die Bundeswehr auszugeben. Und wozu das alles? Um genuin politische (Streit-)Fragen nicht beantworten zu müssen: Welche Mobilitätswende wollen wir auf Kosten welcher Verkehrsmittel? Welchen Tierschutz setzen wir notfalls auch gegen den Willen der Verbraucher durch? Welche Maßnahmen ergreifen wir auf wessen Kosten zum Schutz des Klimas? Welche Bebauung wollen wir an welchen Standorten auf Kosten welcher Freizeitwerte in einer Stadt? Wie viele Rüstungsmilliarden setzen wir zum Schutz des Landes und seiner wirtschaftlichen Interessen ein – und an wessen Seite?

Moralisierung: Es stimmt nicht, dass sich der Raum des Sagbaren verengt. Wohl aber stimmt, dass viele Deutsche verunsichert sind; dass sie nicht wissen, was sie sagen sollen oder besser für sich behalten – bis zuletzt die Höckes das Wort ergreifen, das Unterdrückte aussprechen und für sich in Anspruch nehmen, mit der „Stimme des Volkes“ zu sprechen. Wer etwa im Namen des „Klimanotstands“ spricht, handelt rhetorisch totalitär: Er nimmt eine moralisch unanfechtbare Position ein, stellt sich auf einen Meta-Standpunkt, der keinen Widerspruch duldet – und definiert ein Problem-Problem, dem alle anderen Probleme nachgeordnet sind. Ende der Debatte. Und wer, wie Seenotretterin Carola Rackete, dafür plädiert, dass Europa bis zu 50 Millionen Klimaflüchtlinge aufnimmt, handelt nicht nur wertorientiert, sondern auch aktivistisch und (entsprechend) politikblind. Nichts ist gegen die Rollenverteilung Aktivist – Politiker einzuwenden. Wohl aber gegen einseitig verteilten Applaus, der das Verständnis fürs Politische tötet. Die Seenotretter handeln gesinnungsethisch und menschenrechtlich. Europas Politiker handelten verantwortungsethisch und (staats-)bürgerrechtlich – wenn sie denn handelten, denn an diesem Punkt müsste die Debatte (etwa über EU-finanzierte Flüchtlingszentren in Nordafrika) eigentlich beginnen. Tut sie aber nicht – übrigens nicht mal symbolisch.

Es ist traurig, dass auch klügeren Geistern in diesem Meinungsklima der Sinn für das zentrale Wort der Moderne, für das „Und“, abhandenkommt: Sie wissen nicht mehr, wann und wie sie es einsetzen sollen – und wann und wie nicht. Manchmal bezeichnet das „Und“ zwei Seiten einer Medaille.

Man kommt dann etwa zu dem Schluss: Ich unterstütze Amnesty, wenn es China wegen seiner Menschenrechtsverletzungen anklagt. Und erkenne (zugleich) an, dass es den kommunistischen Kadern in Peking mit kapitalistischen Mitteln gelungen ist, mehrere Hundert Millionen Menschen innerhalb von vier Jahrzehnten der Armut zu entreißen.

Was ist so schwer daran?

An exakt diesem Punkt würden Streit, Diplomatie, Politik beginnen – etwa die Diskussion über Individualrechte und politische Kollektivziele, die niemals mit dem „Sieg“ eines Standpunktes enden kann. Doch zu genau diesem anfänglichen Diskussionspunkt dringen wir oft gar nicht mehr vor, weil wir mit moralpolizeilichen Signalwörtern den politischen Raum von vornherein verengen – vor allem mit den Vokabeln „Rassismus“, „Populismus“, „rechter Rand“, deren „Wert“ und Gehalt durch inflationären Gebrauch nicht mehr bestimmbar ist.

Vor einigen Wochen etwa bezeigten viele Journalisten Ex-Bundespräsident Joachim Gauck ihre Verachtung, weil er AfD-Wähler im Wege des Gesprächs davon abbringen wollte, AfD zu wählen – absurd. Diese Woche schüttete das Netz viel Häme über CDU-Politiker Carsten Linnemann aus, nur weil er, wenn auch in einem deutlich zu scharfen Ton, Sprachkompetenz zur Einschulvoraussetzung erklärte („Ein Kind, das kaum Deutsch spricht und versteht, hat auf einer Grundschule noch nichts zu suchen.“). Das Entscheidende ist: Wer Linnemann hier „Stimmenfang am rechten Rand“ unterstellt (Linke-Chefin Katja Kipping), will gar nicht erst ins Gespräch kommen. Sondern es gleich siegend für beendet erklären. Im Fall von Clemens Tönnies wiederum liegen die Dinge anders: Der Mann hat rassistischen Kolossalblödsinn geredet und dabei offensichtlich auf den Beifall seiner Zuhörenden gezählt. Sein Verhalten ist skandalös, und ein einschränkendes „Aber“ („In der Sache hat er nicht ganz Unrecht…“) fehl am Platz. Stattdessen wäre ein „Und“ hier als Bezeichnung eines restlos unverbundenen Nebeneinanders richtig: Herr Tönnies hat rassistischen Kolossalblödsinn geredet. Und es gibt das Problem des Bevölkerungswachstums in Afrika. Das eine hat mit dem anderen nichts, aber auch rein gar nichts zu tun. Und wer hier was verrührt, verundeutlicht sowohl den einen als auch den anderen Sachverhalt.

Wie also gelingt es, das Politische wieder dem Symbolischen abzutrotzen, die Empörung ins Progressive zu wenden, den Raum des Sagbaren offenzuhalten und die Unsicherheit abzubauen, wegen der viele das politische Streitgespräch meiden? Eigentlich ist es ganz einfach: Gelassenheit statt Furor und Verzicht auf emblematische Vokabeln, die mit Gewinnerzielungsabsicht eingesetzt werden; kein Wettern gegen „linksgrüne Verbotsparteien“ oder „Populismus von rechts“, wenn es erkennbar um Streit in der Sache geht – und klare Kante gegen alle, die an einem verständigen Diskurs nicht interessiert sind, sich nur der Pflege ihrer Vorurteile und Ressentiments, der Provokation und Desinformation, der Demagogie und des Hasses verpflichtet fühlen. 

Noch einmal: Was ist so schwer daran?

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