Das beste Geschichtsbuch über den Dreißigjährigen Krieg (1618 - 1648) stammt immer noch von Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen. Es erschien 1668, heißt „Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch“ und liegt seit 2009 in einer wunderbar leichten, modernen Übersetzung von Reinhard Kaiser vor. Grimmelshausens Held liebt den Frieden - und wird doch mitgerissen vom Strudel der soldatischen Gewalt und Freibeuterei, Opfer und Täter zugleich in einem „Raum der Gewalt“ (Jörg Baberowski) - und weil Grimmelshausen dabei jede hochtrabende Belehrung und bitterböse Wahrheit derbsatirisch zu kontern weiß, ist das Buch nicht zuletzt auch eine Abhandlung über das Menschenmögliche.
Wir können „nach unten ins Tierische entarten“, oder auch „nach oben in das Göttliche“, so hat es rund 125 Jahre vor Grimmelshausen der Renaissence-Humanist Pico della Mirandola formuliert - in der frohen Hoffnung, die Menschheit stehe an der Schwelle eines ewigen Aufwärts. Für Grimmelshausen selbst (1622 - 1676), als Zeuge des Dreißigjährigen Krieges, hingegen ist die Sache klar: Der Mensch ist jederzeit zu allem fähig: „Die Erde, die doch sonst die Toten deckt, war an diesem Ort nun selbst mit Toten übersät. Da lagen Köpfe, die ihre natürlichen Herren verloren hatten, und Leiber, denen die Köpfe fehlten. Manchen hingen die Eingeweide aus dem Leib, anderen war der Kopf zerschmettert und das Hirn zerspritzt. Da lagen abgeschossene Arme, an denen sich noch die Finger regten, als wollten sie in den Kampf zurück.“
Ist es schierer Zufall, dass Friedrich Schiller gut 125 Jahre nach Grimmelshausen wieder an das Beste im Menschen glaubt? Er will mit seiner großen Dramen-Trilogie „Wallenstein“ (1799) an „die düstre Zeit“ des Dreißigjährigen Krieges erinnern, als „straflose Frechheit“ den Sitten Hohn sprach und „rohe Horden“ das Land verheerten - um sich vor dem Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges der frischen Errungenschaften der Menschheit zu vergewissern und um die Französische Revolution, das Ethos der brüderlichen Freiheit und das Heraufziehen einer neuen, großen Zeit zu feiern. Entsprechend ermuntert Schiller im Prolog zum „Wallenstein“ seine Leser, im Rückblick auf die schlimme Zeit „froher in die Gegenwart“ zu blicken „und in der Zukunft hoffnungsreiche Ferne“.
Taugt der Blick in die Annalen für pädagogische Zwecke? Gibt es so etwas wie „Lehren der Vergangenheit“? Oder noch einfacher: Kann man „aus der Geschichte lernen“? Für Schiller ist die (kunstästhetische) Erziehung des Menschen entlang historischer Stoffe keine Frage, sondern eine Aufgabe. Doch wie man weiß, bereitet Adolf Hitler, erneut 125 Jahre später, frisch entlassen aus der Festungshaft, mit der Veröffentlichung von „Mein Kampf“ (1925) den Holocaust vor. Heißt das, wir sollten „Geschichte“ lieber auf sich beruhen lassen? Die vielen Jahrestage nicht zum Anlass nehmen, vergangene Ereignisse im Licht der Gegenwart zu spiegeln? Schillers Drama und Grimmelshausens Roman nur noch als Dokumente aus einer längst versunkenen Zeit lesen?
Der Politologe Herfried Münkler lehnt das ab: „Die historische Erinnerung würde dann musealisiert und diente nur noch der gehobenen Unterhaltung, nicht der politischen Aufklärung“, schreibt er in einem Beitrag für die „Zeit“. Recht hat er. Gerade in Krisenzeiten seien Verweise auf die Geschichte als Orientierungsmarken gefragt: „Weltwirtschaftskrise, Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs, die Appeasementpolitik der westlichen Demokratien gegenüber Hitler, die Zeit des Kalten Krieges – offenbar finden wir uns im Dickicht des Politischen nicht zurecht, ohne die Geschichte zu konsultieren.“
Wobei Münkler allerdings zuweilen die Inanspruchnahme historischer Ereignisse übertreibt und „Geschichte“ geradezu regietheaterhaft inszeniert: Seine vergleichende, zeichenhafte, unbedingt aktualisierende Geschichtsschreibung, die das Vergangene zum Zwecke der Veranschaulichung oder auch nur aus intellektueller Selbstberauschungslust mit dem politischen Heute zusammenzwingt, sind keine interpretierenden Lesarten der Geschichte mehr vor dem Horizont der Gegenwart, sondern im wahrsten Sinne des Wortes Spiel-Arten. Was haben Wallensteins Söldnertruppen mit den Kriegern des so genannten „Islamischen Staates“ gemein? Und ist der Freiheitskampf der Niederländer gegen die spanischen Habsburger im 17. Jahrhundert tatsächlich vergleichbar mit dem Arabischen Frühling? Wenn es so etwas gibt wie „Fake News“ in der Geschichtsschreibung, so wäre damit auf jeden Fall nicht die fiktive, romanhaft-dramatische Überschreibung eines historischen Stoffes wie im Falle von Grimmelshausen und Schiller gemeint - sondern der frei flottierende, vergleichende Gedankenflug über vier Jahrhunderte hinweg.
Zumal ausgerechnet der Dreißigjährige Krieg keine eindeutigen Interpretationen zulässt: Die Serie von vier Kriegen mit je unterschiedlichen Interesselagen und von je unterschiedlicher Tragweite lässt sich nicht entlang von konfessionellen Konflikten (katholisch vs. protestantisch) erzählen, nicht entlang europäischer Machtfragen (Frankreich vs. Habsburger) und nicht entlang von zunehmend selbstbewussten Ständen, die sich gegen ihre Landesherren auflehnen („Prager Fenstersturz“). Sondern nur als hochkomplexes Ineinander von Konstellationen, die mindestens von Karl V. und Martin Luthers Thesenanschlag (1517) her erzählt werden müssen.
Also doch musealisierte Geschichtsschreibung? Keineswegs. Der Freiburger Historiker Jörn Leonhard empfiehlt, in „Analogien mittlerer Reichweite“ zu denken: „Wir sehen in der Gegenwart mehr, wenn wir in die Geschichte blicken und uns auf die Komplexität“ einer historischen Konstellation einlassen. Selbstverständlich seien Historiker mit der Erwartung konfrontiert, „sie mögen mit der Komplexität der Vergangenheit auch ein Stück weit die Komplexität der Gegenwart strukturieren.“ Aber man müsse sehr vorsichtig sein: „Geschichte wiederholt sich nicht. Die Konstellationen sind immer andere. Wir steigen nicht zweimal in denselben Fluss.“
„Analogien mittlerer Reichweite“ - mit ihnen ließen sich, bezogen auf den Dreissigjährigen Krieg, höchst interessante Diskussionen anregen, die zeitübergreifende Vergleiche scheuen und auch den Fehler vieler Historiker vermeiden, im Rückblick Geschichte als linearen, kausal nachvollziehbaren Prozess zu schildern. Es ginge dann nicht um gleichsam kollektivpsychologische Befunde wie etwa den, dass „die Deutschen“ aufgrund einer traumatischen Kriegserfahrung ein besonders zahmes, gehorsames Bewusstsein entwickelt hätten, ein revolutionsaverses Sicherheitsbedürfnis.
Sondern etwa darum, dass entgrenzte (Bürger-)Kriege mit vielen zivilen Opfern sich zwar sehr lange (und zerstörerisch) selbst ernähren, aber nur so lange, bis ihre Kämpfer erschöpft - und viele Zivilisten getötet, verarmt, geflüchtet, verhungert - sind. Darum, dass der leidenschaftliche Kampf um „Wahrheit“ mit Furor und bellizistischem Eifer geführt wird - bis sich die „Wahrheit“ in verhandelbare „Interessen“ auflöst. Darum, dass allein in Räumen der Rechtssicherheit der aufgeklärte Zweifel und mit ihm die Wissenschaft, der „Fortschritt“ gedeihen kann (Descartes: „Nichts allzu fest glauben!“). Und schließlich darum, dass „Freiheit“ mit Judith Shklar vor allem von der Furcht her zu denken ist, sie zu verlieren.
Wer bei diesen vier Beispielen nicht sofort auch an den Islamischen Staat, an den religiösen Fanatismus von Terroristen, an die selbstverordnete Rückständigkeit mancher Länder oder an autokratische Regime denkt, der ist für das historische Erzählen im Sinne von „Analogien mittlerer Reichweite“ wohl verloren. Womöglich aber nicht für Schiller? Man lese nur mal den „Wallenstein“ im Lichte der „Söldner“, von denen Aktionärsvertreter Klaus Nieding auf der Hauptversammlung der Deutschen Bank sprach: So wie sich die Söldner-Soldaten damals bei ihren Fürsten verdingen und auf Kosten der Bevölkerung bereichern, so verdingen sich heute Investmentbanker bei ihren Instituten auf Kosten der Allgemeinheit? Sagen wir es so: In Kunst und Literatur sind auch „Analogien größerer Reichweite“ erlaubt. Oder, um es mit Schiller über Bürger-Bauern und Geld-Soldaten zu sagen: „Die einen füllen / Mit nützlicher Geschäftigkeit den Beutel, / Und andere wissen nur ihn brav zu leeren. / Der Degen hat den Kaiser arm gemacht; / Der Pflug ist’s, der ihn wieder stärken muss.“