Tauchsieder
Woher kommt der Erfolg der Grünen? Quelle: imago images

Der Höhenflug der Grünen liegt nicht nur am Versagen der anderen

Die Deutschen mögen keine Fundis und Ideologen. Eben deshalb hängen die Grünen gerade SPD und FDP ab - und steigen zur zweitstärksten Kraft in Bayern und Deutschland auf.

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Warum Ministerpräsident Markus Söder und die Horst-Seehofer-CSU schlecht abschneiden bei der Landtagswahl in Bayern - dazu habe ich an dieser Stelle alles Nötige gesagt in den vergangenen Wochen: Es hat viel mit Markus Söder zu tun, viel mit Angela Merkel, Horst Seehofer und den „Berliner Verhältnissen“ – und viel mit einer CSU, die sich aus lauter Angst vor der AfD entbürgerlicht hat - und in den Sommermonaten auf den Gedanken verfiel, das Thema Migrationspolitik mit rechtspopulistischen Begriffen („Asyltourismus“) vergiften und die blau-weiße „Heimat“ kreuzritterlich abgrenzen zu müssen gegen einen von ihr niqabdämonisierten Islam.

Bleibt die Frage offen, warum ausgerechnet die Grünen vom Abschwung der CSU in Bayern (und der Union in Deutschland) gegenwärtig besonders profitieren – vor der FDP, dem bürgerlichen Traditionsbündnispartner der Union, vor den Freien Wählern – und auch noch vor der AfD, die in Westdeutschland ihre besten Tage gesehen haben dürfte.

Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Die große Koalition in Berlin ist unbeliebt, bei den politischen Partnern ebenso wie bei den Wählern. Die programmatische Leere der Union ist so umfassend wie die historische Mission der SPD erfüllt ist, spätestens seit der Durchsetzung des Mindestlohns. 

Aber das ist es nicht. Die Attraktivität der Grünen hat auch viel mit den Grünen selbst zu tun. Und mit der Schwäche der Liberalen. Zunächst: Die Grünen haben nach der Bundestagswahl 2017 ihre Parteispitze ausgetauscht. Cem Özdemir gab den Parteivorsitz im Januar ab, obwohl er neben den Institutionspolitikern Wolfgang Schäuble (CDU/Bundestagspräsident) und Frank-Walter-Steinmeier (SPD/Bundespräsident) zu den beliebtesten deutschen Politikern gehört. Das hatte die paradoxe Folge, dass es keine andere Partei derzeit in punkto Sympathievermutung mit den Grünen und ihrem Spitzenpersonal aufnehmen kann.

Annalena Baerbock (37) und Robert Habeck (49) personifizieren Lebensnähe, Unverbrauchtheit, Veränderungswillen, und in Oppositionszeiten werfen derlei Eigenschaften allemal höhere Renditen ab als Qualifikation, Sachkompetenz und Detailkenntnis. Zumal dann, wenn der politische Gegner den Grünen immer noch reflexhaft Seriosität abspricht, um sie sich selbst indirekt zuzuschreiben: ein Hochmut, den vor allem junge Wähler heute leicht durchschauen und abstrafen.

Und sonst? Nun, neben dem Führungsduo hält niemand so liebenswert wie Cem Özdemir, etwa mit seiner klaren Kante gegen Erdogan und Putin, die deutsche (Verfassungs-)Patriotismus-Fahne hoch. Katrin Göring-Eckardt verströmt mehr als nur einen Hauch quasipräsidialer Aussöhnung mit Staat und Kirchen. Und selbst der Hofreiter Toni, ja mei, hat doch im Prinzip immer recht, wenn er gegen Diesel-Betrüger, Klimaschädlinge und Massentierhalter wettert – ist doch wirklich alles eine Riesensauerei.

Kein Wunder also, dass die Grünen ihren lange schon eingebüßten Ruf als Bürgerschreck endgültig verloren haben. Sie regieren in neun Bundesländern mit, sie stellen im Autoland Baden-Württemberg den Ministerpräsidenten und in Daimler-Stuttgart den Oberbürgermeister – und niemand war in den Jamaika-Wochen nach der Bundestagswahl 2017 so regierungs- und kompromissbereit wie die gestaltungshungrigen Grünen.

Es grenzt daher ans Lächerliche, dass Markus Söder auf den letzten Metern des Wahlkampfes auch noch eine Art „Grüne-Socken-Kampagne“ anzettelte und das dümmste aller Scheinargumente aus der Wahlkampf-Mottenkiste der Neunzigerjahre hervorzauberte: Die Grünen stünden für eine „ideologische Verbotskultur“ und seien daher „so in der Form nicht koalitionsfähig“.

Dabei dürfte Söder wissen, dass sie es selbstverständlich sind. Und dass die Deutschen gegen ein paar Verbote überhaupt nichts einzuwenden hätten. Gegen ein Verbot bestimmter Formen des Derivatehandels etwa. Gegen Verbote bestimmter Formen der Steuergestaltung internationaler Konzerne. Gegen Verbote der kostenlosen Datenabschöpfung, der Bürgerüberwachung, der Braunkohleverstromung und von Verbrennungsmotoren (ab 2030 oder 2035).

Repolitisierung der Gesellschaft

Tatsächlich ist es nämlich so: Die Grünen und ihre politischen NGO-Ableger (Attac, Greenpeace) haben schon vor 20, 30 Jahren vor dem Klimawandel, dem Finanzkapitalismus und dem Autowahnsinn gewarnt – nicht sie also, sondern die wirtschaftsliberalen Eliten litten jahrzehntelang unter „platonischen Fehlschlüssen“ und kognitiven Verzerrungen – unter der Vorstellung, die Welt sei voller weißer Schwäne (Nassim Nicholas Taleb). An die Kraft von „Selbstverpflichtungen der Wirtschaft“ jedenfalls glaubt nach Hunderten von Deutschbank-Prozessen und endemischem Volkswagen-Betrug niemand mehr, im Gegenteil: Die beiden Konzerne dürfen froh sein, dass so viele deutsche Kunden ihnen überhaupt noch die Treue halten.

Hinzu kommt: In einer Welt, die die Deutschen seit zehn Jahren als krisenhaft erfahren, als schwer verstehbar (Banken- und Eurokrise), als unübersichtlich (Syrien-Konflikt) und auf entfernte Weise riskant (Klimawandel) – ohne zugleich persönlich von der Krisenhaftigkeit der Welt direkt betroffen zu sein –, wächst das Bedürfnis nach einer normativen Idee, die, wenn nicht Heilung, so doch Orientierung verspricht.

Politik bekommt wieder eine politische Dimension. Die AfD schöpft die Repolitisierung der Gesellschaft auf ihre Weise ab. Doch auch die (meisten) anderen Deutschen, die den Glauben an völkische Lösungen verloren haben, die gegen Hetze und Nationalheilslehren immun sind, wollen wieder auf Ziele hinarbeiten: Ihnen darf und muss Politik Sinnangebote unterbreiten, Horizonte weiten, Dimensionen eröffnen. Sie schätzen Politiker, die aus guten Gründen Ziele verfolgen, bevor uns die Probleme einholen.

„Das Wahlergebnis hat Bayern jetzt schon verändert“
Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder Quelle: REUTERS
Das Landtagswahlergebnis hat Bayern „jetzt schon verändert“, sagt Grünen-Spitzenkandidatin Katharina Schulze Quelle: dpa
Der Spitzenkandidat der Freien Wähler, Hubert Aiwanger Quelle: REUTERS
Die bayerische SPD-Spitzenkandidatin Natascha Kohnen Quelle: REUTERS
Bundesgeschäftsführer der Grünen, Michael Kellner Quelle: REUTERS
Ex-CSU-Chef Erwin Huber Quelle: dpa
CSU-Parteichef Horst Seehofer Quelle: dpa

Die Grünen bieten den Deutschen eben das: Sie schicken Politiker in die Wahl- und Talkshow-Arenen, die einerseits die Begrenztheit ihres politischen Handelns offen anerkennen, die aber andererseits ihr Programm mit einem „Surplus“ der Moral, der Wertegebundenheit und der Redlichkeit anreichern. Anders als viele Politiker in Union und FDP sind sie paradoxerweise in all ihren Zweifeln zutiefst überzeugt von dem, was sie tun. Dadurch wirken sie nicht nur sympathisch, sondern auch souverän.

Der vielleicht wichtigste Grund für den Höhenflug der Grünen aber liegt in der gegenwärtigen Krise des klassischen Liberalismus – und in einer FDP, deren Selbstbezeichnung als „Freiheitspartei“ heute nicht mehr verlockend, sondern teils bedrohlich klingt: als Freiheit, die sich Banker und Silicon-Valley-Libertäre, Superreiche und Steuerhinterzieher, Konzernmanager und SUV-Fahrer herausnehmen auf Kosten ehrlicher Steuerzahler.

Realo-Parteichef Christian Lindner hat es aus Rücksicht auf die leichtliberalen Fundis nicht geschafft, der FDP ein ordnungspolitisches Antlitz zu verpassen. Die Lindner-Liberalen wollten „nicht pro Business, sondern pro Markt“ sein, nicht nur „nach der Freiheit der Unternehmer“ fragen, „sondern auch nach der Freiheit der Bürger und Konsumenten“. Sie versprachen: „Chancen für jeden heißt Fortschritt für alle“. Am Ende des Tages aber dominieren in den Sozialen Medien dann doch Liberale, die sich von Friedrich August von Hayek ihre Schmähreden gegen den Sozialstaat soufflieren lassen und sich über linksgrüne Ideologen mokieren.  

Während die Grünen ideologisch abgerüstet haben, stehen die Liberalen noch immer in Waffen – auf dem Feld der religiösen Staats- und Regulierungsfeindschaft. Das ist nach allem, was passiert ist, nicht nur absurd, sondern vor allem selbstblind. Gewiss: Der Liberalismus ist die politische Ideologie der Ideologiefreiheit. Zu seinen größten Leistungen gehört seit dem 18. Jahrhundert die ethische Säuberung der Staatstheorie. Danach widersteht ein guter Staat der Versuchung, seinen Mitgliedern, die ihn bilden, eine bestimmte Auffassung vom Leben zu diktieren. Anders gesagt: Der liberale Staat ist ein Rechtsstaat, nichts weiter, moralisch blind wie Justitia. Er ist ein Staat, der nicht denkt.

Alles, was Sie zum Ergebnis der Wahl wissen müssen

Was die FDP allerdings nicht versteht: Der Liberalismus ist damit auch blind für seinen eigenen Dogmatismus, dafür, dass ausgerechnet seine moralische Neutralität – die Auffassung, die Welt vor allen ideologischen Teufeleien beschützen zu müssen – eine doktrinäre Kehrseite hat: Er prämiert Rechtgläubige und (Selbst-)Erwählte, die von der Kanzel des eingebildeten Freigeistes herab wider die Übergriffigkeit von „Gleichmachern“ und „Gutmenschen“ agitieren, wider die „Bürokratie“ und „Sozialgesetzgebung“, wider die „Technikfeindlichkeit der Deutschen“ und überhaupt wider alle, denen es an der Reife mangelt, mutig ihre Freiheit zu ergreifen. 

Es stimmt schon: Die meisten Deutschen mögen keine Fundis und Ideologen. Eben drum steigen die Grünen zur zweitstärksten Kraft in Bayern auf, vor SPD, AfD und Linken – und natürlich auch den Liberalen.

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