Tauchsieder
Sachsen-Anhalt wählt diesen Sonntag einen neuen Landtag. Ministerpräsident Reiner Haseloff will an der Macht bleiben. Quelle: Imago

Der Osten auf der Couch

Hört das denn nie auf? Auch mehr als 30 Jahre nach der Deutschen Einheit beugen wir uns über die „neuen Bundesländer“ wie Ärzte über sieche Patienten. Anmerkungen zur Landtagswahl in Sachsen-Anhalt.

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Sachsen-Anhalt wählt einen neuen Landtag. Ein bundespolitisch unbedeutsamer Vorgang. Gerade mal 1,8 Millionen Bürger werden zu den Urnen gerufen, kaum drei Prozent der Menschen, die in vier Monaten die Zusammensetzung des Deutschen Bundestags bestimmen. Allein Nordrhein-Westfalen zählt acht mal so viele Einwohner wie Sachsen-Anhalt. Auch wird der gegenwärtige Ministerpräsident, Reiner Haseloff (CDU), der Sachsen-Anhalt bereits seit zehn Jahren regiert, der nächste Ministerpräsident sein. Muss uns diese Landtagswahl in Sachsen-Anhalt also interessieren?

Sie muss. Und das paradoxerweise, weil sie so langweilig ist. Das Wahlverhalten der Menschen in Sachsen-Anhalt ist praktisch unverändert, fast zementiert: Die CDU darf Umfragen zufolge mit rund 30 Prozent rechnen, die AfD mit viel mehr als 20 Prozent, dahinter folgen, deutlich näher zusammengerückt: eine geschwächte Linke, eine Zehn-Prozent-SPD, an die man sich in vielen Bundesländern beinahe schon gewöhnt hat, sowie, den Bundestrend schemenhaft abbildend, leicht gestärkte Grüne und Liberale.

Beruhigend ist an dieser Langweile nichts. Die Bonner Parteien bringen gerade mal knapp 60 Prozent auf die Waage. Jeder dritte Wähler in Sachsen-Anhalt optiert für den politischen Rand. Und jeder vierte bis fünfte wählt abermals eine Partei der Ausgrenzung und des Fremdenhasses, der Desinformation und des Ressentiments – so wie schon vor fünf Jahren.

Umso merkwürdiger, dass Marco Wanderwitz (CDU), der regierungsamtlich bestellte Notar für Ostdeutschland, seit einigen Tagen heftig dafür angegangen wird, weil er diese Zahlen beurkundet und politisch deutet. Die Beurkundung ist so wichtig wie eine politische Debatte über die Gründe, die Wanderwitz erkennbar anstoßen will – wofür sonst müsste es noch einen „Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer“ geben?

Wanderwitz sagte der FAZ und bekräftigte in der Rheinischen Post, dass im Osten die Neigung zur Wahl rechtsradikaler Parteien stärker ausgeprägt sei als im Westen, dass ein Teil der Bevölkerung inzwischen „gefestigte nichtdemokratische Ansichten“ vertrete und „auch nach 30 Jahren nicht in der Demokratie angekommen“ sei. Und? Welcher Freund der Empirie wollte ihm mit Blick auf die Zahlen (nicht nur in Sachsen-Anhalt) widersprechen? In Sachsen zog die NPD in den Landtag ein, bevor es die AfD gab, in Brandenburg und Sachsen-Anhalt die DVU. Die AfD zieht im Osten nicht nur mehr Menschen an als im Westen, sondern sie funkt etwa in Thüringen auch deutlich antidemokratischer und rechtsradikaler als etwa in Rheinland-Pfalz. Es ist daher nur folgerichtig, dass sich Wanderwitz „große Sorgen um die Demokratie in den neuen Bundesländern“ macht, einen „Teil dieser Menschen auf(zu)wecken“ möchte.

Anstoß zu nehmen wäre allein an seinem Defätismus und an der eindimensionalen Begründung für seinen Befund: Wanderwitz dekretiert, „dass ein nicht unerheblicher Teil der AfD-Wähler leider dauerhaft für die Demokratie verloren ist“ – und er meint damit vor allem ältere Menschen, die in der DDR primärsozialisiert, sprich: „diktatursozialisiert“ wurden. Diese Verkürzung ist, mit Verlaub, Unfug. Niemand ist nie für die Demokratie verloren. Und wie kommt Wanderwitz darauf, drei Jahrzehnte der (offenbar misslungenen)  Sekundärsozialisation im geeinten Deutschland auszublenden? Um es in den Worten von Altbundespräsident Joachim Gauck zu sagen: So „töricht“ es wäre, „die langen Schatten von Diktatur nicht zu sehen“, so töricht wäre es auch, die ostdeutsche Gesellschaft nicht als „Transformationsgesellschaft“ zu begreifen, in der viele das Gefühl hatten, genau zu wissen, „was wir verwerfen“ – und zugleich das Gefühl, „etwas verloren zu haben“.



Viele Linke und Sozialdemokraten verweisen mit Blick auf die ostdeutsche Umbruchsgesellschaft nach dem Mauerfall gern auf den Kälteeinbruch dessen, was sie für „Neoliberalismus“ halten: Westdeutsche Konquistadoren sind, mit der Markteffizienztheorie und ganz viel Geld im Gepäck, über die Lebensentwürfe und Mentalitäten der Ostdeutschen hinweg getrampelt, um Land und Leute zu annektieren – Nachbau West statt Aufbau Ost. Sie konservieren damit bis heute einen antikapitalistischen Reflex statt das Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft zu fördern.

Überzeugender ist es, mit dem Soziologen Steffen Mau davon zu sprechen, dass es damals um „das friktionslose Hereinholen der Ostdeutschen in die westdeutsche Modellgesellschaft“ ging, mithin die Deutung, dass viele Menschen in den neuen Bundesländern damals nicht nur ihre Arbeit, sondern auch ihren sozialen und kulturellen Status verloren – und bis heute Schwierigkeiten haben, ihre Umbruch-Erfahrung als Element der bereichernden Selbstanerkennung zu verstehen.

Die politischen Versäumnisse dabei sind allseits groß: PDS, Linke und weite Teile der SPD haben, ganz Melancholiker des Umbruchs, die Passivität und Objektrolle der Ostdeutschen nach der Wende konserviert, eine verständigende Selbsterzählung der ostdeutschen Migrationsgesellschaft durch Nostalgisierung und Verkitschung des DDR-Unrechtregimes verunmöglicht und schon gar keine mentalen Brücken in die Gegenwart und Zukunft gebaut – während die Union mit Triumphgeheul und tragischem Zuversichtszwang über die „Festhaltementalitäten“ der Menschen (Mau) hinwegging. Die Christdemokraten haben, verliebt in ihre schablonierten Feindbilder, die starke Linkspartei im Osten nie (auch) als „Kümmer-CSU des Ostens“ gewürdigt, ihre Wähler permanent als Ewiggestrige dämonisiert, dem Ressentiment und dem Rechtsextremismus dadurch Räume eröffnet – zumal man das Problem am rechten Rand fast schon systematisch marginalisierte.

Der Soziologe Max Scheler hat das Ressentiment in seinem Standardwerk (1912) als „seelische Selbstvergiftung“ beschrieben, als „dauernde psychische Einstellung“, als gestauten Groll und zurückgestellte Rache: als „Negativismus gegen jede positive Lebens- und Kulturgestaltung“, kurz: als Gift für die Zukunft. Die AfD kann dieses Ressentiment glänzend ausbeuten. Allerdings nur, solange die Menschen in Ostdeutschland als Objekte adressiert werden und als willenlose Produkte anonymer Prozesse, als Spielball politischer Eliten und womöglich auch als soziologische Spezies – übrigens auch nur solange, wie die Politik das Politische ins Therapeutische wendet und den Rechts- und Sozialstaat zur Lebensbetreuungsagentur umfunktioniert.

Wäre es möglich, dass die beiden zentralen Erklärungsmuster für die andauernde „Andersartigkeit des Ostens“ („diktatursozialisiert“ und „Transformationsgesellschaft“) nicht nur keine Lösung des Problems bereithielten? Sondern dass sie in der Dominanz einer Rückbezüglichkeit – abermals mit Gauck gesprochen – das Befreiende der individuellen Verantwortung, des Sich-Stellens, der kritischen Selbstbefragung und -anerkennung (damals in der DDR, damals in der Umbruchzeit, auch heute) seit mehr als 30 Jahren ausklammert - zugleich das Problem selbst darstellten?

Wanderwitz hat Recht, wenn er seinen problematischen Befund mit einer politischen Handlungsanweisung in Richtung der eigenen Partei verbindet: Die CDU muss jetzt „die Brandmauer“ nach rechts „möglichst hoch“ ziehen, sich gegen jeden DDR-Vergleich („Corona-Diktatur“) verwahren, der schleichenden Delegitimierung von Institutionen (Parlament, „Mainstream“-Politiker, „Lügenpresse“ etc.) auch in der Person ihres Zaudervorsitzenden Armin Laschet Einhalt gebieten: Wenn fast ein Drittel der CDU-Wähler in Sachsen-Anhalt sich eine Zusammenarbeit mit der AfD vorstellen kann, müssen die Führungsgremien der Partei diesem Drittel nicht die Türe weisen, sie aber wohl mit Wucht vor die Brandmauer laufen lassen.

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Und die anderen Parteien, vorweg die Grünen, seit sie aufs Kanzleramt Anspruch erheben? Sie müssen dafür sorgen, dass die Diskurse über die gesellschaftliche Modernisierung (Klima) nicht über die Köpfe vieler Ostdeutscher hinweg geführt werden, also etwa über Facharbeiterköpfe, die sich nicht für den Genderstern interessieren und sich weder über die „Süddeutsche“ noch die „WirtschaftsWoche“ beugen.

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU), auch Dietmar Woidke (SPD) und mit Abstrichen Reiner Haseloff, machen seit drei, vier Jahren vor, wie es gehen kann: Sie überwinden die doppelte Rückbezüglichkeit vom DDR-Erbe und vom kalten Kapitalismus, zeigen „klare Kante“ gegen rechts, sie bieten (nicht biedern) sich AfD-Wählern als Alternative zum schrittweisen Abbau des Ressentiments an – und erzählen den „Kohleausstieg“ als Story über Batteriezellfertigung und Elektromobilität, von Wasserstoff-Industrie und erneuerbaren Energien: nicht als Elegie des Misslingens, sondern als Roman der Möglichkeiten. Nur so kommt „der Osten“ irgendwann runter von der Couch – um dann hoffentlich auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden.

Mehr zum Thema: Das Land ist besser als sein Ruf, sagen viele Unternehmer in Sachsen-Anhalt. Aber nach 30 Jahren Aufbauarbeit verschrecken rechte Umtriebe ausländische Investoren und Fachkräfte.

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