Tauchsieder
Quelle: Illustration: Marcel Reyle

Der Zorn der Wölfe

China lässt Spionageballons aufsteigen und beschuldigt die USA, den Krieg Russlands gegen die Ukraine angezettelt zu haben. Ist Peking unter Xi Jinping überhaupt noch an einer Entspannung der Weltlage interessiert? Ein Blick zurück zeigt: wahrscheinlich nicht. Eine Kolumne.

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Im Jahr 2004, Angela Merkel schickte sich in Deutschland gerade an, ihren Einzug ins Kanzleramt vorzubereiten, feierte der Schriftsteller Jiang Rong im fernen China einen spektakulären Verkaufserfolg. Sein Bestseller hieß „Wolf’s Totem“, und als es vier Jahre später unter dem Titel „Der Zorn der Wölfe“ auf Deutsch erschien, stand der vielfach raubkopierte Roman in rund 20 Millionen chinesischen Buchregalen. An der fürchterlich langatmigen Abenteuergeschichte, ein auf rund 650 Seiten ausgewalzter Mix aus Jack-London-Apologetik, jägerlateinischem Stärkepathos und wildromantischem Steppenkitsch im 20-Uhr-15-Fernsehstil, konnte es eigentlich nicht liegen. Woran aber dann?

Nun, das Verlagswesen Chinas war damals gehalten, den „Nationalgeist“ der Bevölkerung zu stärken. Die britische Schriftstellerin Joanne K. Rowling und der US-amerikanische Time-Warner-Konzern hatten die weltweite Suprematie kultureller „Soft Power“ westlicher Provenienz mit ihren „Harry Potter“-Romanen und -Filmen gerade noch einmal eindrucksvoll bekräftigt – ein Höhepunkt transatlantischer Blockbuster-Diplomatie in China, der letzte unbelastete, popkulturelle Triumphzug Anglo-Amerikas durch die Buchläden und Kinos in Peking und Shanghai.

Der damalige Staatschef Jiang Zemin ermahnte die Kulturschaffenden deshalb schon im November 2002, an der Pflege eines „Nationalgeistes“ mitzuwirken, „mehr Werke fürs Volk“ zu schaffen – und alle „dekadente Kultur entschieden (zu) boykottieren“. China stehe mit anderen Nationen im Wettbewerb „hinsichtlich der umfassenden Landesstärke“, und dem Kulturbetrieb falle die patriotische Aufgabe zu, den chinesischen Menschen zu „gestalten“ und zu „wappnen“ mit „erhabenen Auffassungen“.

Jiang rief sein Land auch zu einer Gegenoffensive in „Public-Diplomacy“ auf: Es gelte, den Blick „auf die Frontlinie der kulturellen Entwicklung in der Welt“ zu richten und die „Anziehungs- und Wirkungskraft der sozialistischen Kultur chinesischer Prägung“ zu stärken. Und er versprach sich davon eine Stärkung der Volksseele: „Der Nationalgeist ist die geistige Stütze für die Existenz und Entwicklung einer Nation“, so Jiang, seine „Pflege und Weiterentwicklung… angesichts der weltweiten Wechselwirkung der verschiedenen Ideologien und Kulturen… eine äußerst wichtige Aufgabe“.

Es ist die Geburtsstunde der chinesischen Wolfsdiplomatie – wenn auch damals noch im Pelz des Pandabären. China fängt 2004 damit an, „die Kultur als Teil der weichen Macht unseres Landes“ systematisch einzusetzen (so Jiangs Nachfolger Hu Jintao im Jahr 2005) und die Welt mit (inzwischen rund 500) Konfuzius-Instituten zu überziehen: Es geht zunächst darum, ein betont freundliches (Selbst-)Bild Chinas in die Welt zu tragen, die Menschen rund um den Globus bekannt zu machen mit den Kulturschätzen und Denktraditionen einer mächtig aufstrebenden Nation, das sich als „Reich der Mitte“ begreift, genauer: als Inhaber des himmlischen Mandats („tianxia“), andere Nationen in seinen Bann zu ziehen und die „Schicksalsgemeinschaft der Menschheit“ hierarchisch zu bergen.

Insofern ist „Der Zorn der Wölfe“ damals vor allem das Produkt einer kadersozialistischen Kulturoffensive, der Versuch  der Kommunistischen Partei, einen „Soft Power“-Konter gegen den Westen zu fahren, angezettelt von einem bekannten Verlagshaus und erfolgreich begleitet von Marketingexperten, die Lizenzen von „Wolf’s Totem“ in 20 Länder verkaufen. Kein chinesischer Roman war weltweit je erfolgreicher.

Aber es gibt noch eine andere Version der Geschichte. Eine, die viel erzählt über die Ambiguität, zu der die Kader in Peking damals noch fähig waren und mit der man als westlicher Beobachter auf das autokratische China vor knapp 20 Jahren noch blicken musste, um es zu verstehen – und über die totalitäre Wende, die Generalsekretär Xi Jinping dem Land seit zehn Jahren aufzwingt. Eine Geschichte über den Wolf im Pandakostüm.

Wegbereiter der „Wolfsdiplomatie“

Hinter dem Pseudonym „Jiang Rong“ verbirgt sich Lu Jiamin, ein ehemaliger Professor für Wirtschaftspolitik, ein Regimekritiker seit den 1970er-Jahren, ein Aktivist der Demonstrationen auf dem Tian’anmen-Platz 1989. Lu hat seine Identität zwei Jahre lang nicht preisgegeben. Er war sich sicher: Hätten die Kader ihn, den Autor, beizeiten gekannt – das Buch wäre nicht veröffentlicht worden und das Regime hätte ihn, einmal mehr, spüren lassen, dass er sich zu weit aus dem Fenster gelehnt habe. 18 Monate saß Lu damals, nach den Studentenprotesten auf dem Platz des Himmlischen Friedens, im Gefängnis.

Einmal in der Welt aber und außerordentlich erfolgreich, gönnt die Kommunistische Partei Chinas dem Buch seinen Erfolg und dem Regimegegner seinen Aufstieg zum Millionär. Und nicht nur das. Sie beutet die krude Geschichte auch doppelt aus, nämlich einerseits zur Hebung des „Nationalgeistes“, andererseits zu pandadiplomatischen Zwecken – und deutet „Wolf’s Totem“ heute drittens um in einen literarischen Wegbereiter der „Wolfsdiplomatie“ – in einen Mustertext für die offensive, aggressive Unverblümtheit, mit der chinesische Diplomaten seit einigen Jahren weltweit westliche Regierungen kritisieren und diffamieren. Für Lu muss es eine Qual sein. Kann man einen missliebigen Autor schlimmer strafen als mit ideologischer Appropriation?

Worum also geht es in „Der Zorn der Wölfe“? Nun, Lu erzählt, angelehnt an seine eigene Biografie, von einem jungen Mann aus Peking, der während der Kulturrevolution in der Inneren Mongolei lebt und arbeitet und dort gegen Maos „Große Sprung nach vorn“-Ambitionen das Ethos der Steppe und das Ideal eines einfachen Lebens in Einklang mit der Natur lieben lernt. Die Mao-Kritik des Erzählers ist dabei mitunter ziemlich explizit: „Diese Idioten in der Zentrale klauen den Wölfen ihre Vorräte – wenn ich Leitwolf wäre, würde ich auch auf Rache sinnen und ihre Schweine und Hühner töten.“

Kritik an Han-Chinesen – und Aufruf zum Aufstand

Das ist die erste Ebene der Kritik unter der Oberfläche der Jägergeschichten. Aber Lu hat das Buch zweitens immer auch als Parabel verstanden: Er denunziert die träge Sesshaftigkeit der Han-Chinesen, die keinen Sinn mehr entwickeln können für ihre zweite, nomadische Mongolennatur – und stellt sie als geduldige, willenlose Schafherde bloß, die sich irgendwelchen Leithammeln unterwerfen, statt die Zügel selbst in die Hand zu nehmen und ihre Zukunft selbstbestimmt zu gestalten – so wie Wölfe es tun würden. Das ist die zweite Ebene der Kritik: ein Aufruf zum Aufstand.

Man kann die Geschichte aber eben auch bloß als Abenteuerroman lesen, der eine öde Jagdgeschichte an die nächste reiht – und mit profanem Öko-Pantheismus die Herzen der Welt gewinnen, mit gut verkäuflicher Grasland-Folklore, 2015 verfilmt von Jean-Jaques Annaud, dem Meister des romantisch verklärten Hochebenen-Epos („Sieben Jahre in Tibet“): ein Panorama unendlicher Weiten, wilder Pferde und grüner Grenzenlosigkeit; ein chinesischer Wildostfilm, eine Hymne auf den Mythos Steppe. Ein Exportgut chinesischer Public Diplomacy.

Man darf nicht vergessen, dass China vor fünf Jahren noch aller Welt vor allem freundlich erscheinen wollte. Als Xi Jinping im Sommer 2017 zu ihrer „großen Freude“ Angela Merkel besuchte, brachte er noch zwei Riesenpandas für den Berliner Zoo mit, die die Kanzlerin vor klickenden Kameras lächelnd zu „Sonderbotschaftern unserer beiden Länder“ erklärte. Heute wirkt das Freundschaftszeichen wie eine blasse Erinnerung an eine untergegangene Welt. Was Merkel damals als Pandadiplomatie willkommen hieß, würde Scholz heute als schwerer diplomatischer Fehltritt vorgeworfen. Scholz und Xi mit Kuscheltier – undenkbar.

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