Tauchsieder
Das Energiepolitische Roulette der neuen Bundesregierung: Gas-, Kohle- und Windkraft. Quelle: imago images

Deutschland im Wohlstandsstress

Die Energiewende ist ein volkswirtschaftliches Großexperiment bei laufendem Betrieb. Keine andere Industrienation hat sich jemals aus freien Stücken so großen Risiken ausgesetzt. Sind wir noch zu retten?

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Energie ist eine vermögende Größe, klassisch definiert als Potenzial, Arbeit zu verrichten. Sie ist natürlich gebunden, muss freigesetzt und umgewandelt werden – übrigens nicht nur physikalisch, sondern auch ökonomisch: Eine moderne Volkswirtschaft tut gut daran, reichlich „wirkende Kraft“ zu bevorraten, sie nicht künstlich zu verknappen, zu verteuern. Denn es braucht jede Menge Energie, um ein Land in Bewegung zu setzen, es emporzuheben und zu erleuchten, ganz buchstäblich, also im produktiven Sinne der Wirtschaftssektoren – und erst recht metaphorisch.

Wie gut also, dass Robert Habeck ein philosophierendes Energiebündel ist. An seiner rhetorischen Kraft und an seinem politischen Antrieb soll es nicht mangeln in den nächsten vier Jahren, daran lässt der Wirtschaftsminister gleich zu Beginn seiner Amtszeit keinen Zweifel. Am Dienstag stellt Habeck in Berlin seine Eröffnungsbilanz vor. Aber natürlich spart er schon im Vorfeld nicht an Beschreibungen der Monumentalität seiner vizekanzlerischen Schaffenszeit: „Die Aufgabe ist groß“, sagte Habeck mit Blick auf die klimaneutrale Umgestaltung der Wirtschaft im Interview mit der „Zeit“, und gewiss, er gehe mit einem „drastischen Rückstand“ an den Start, weil seine Vorgänger leider nicht gleichermaßen durchpulst waren von Tatkraft wie er, aber: „Wir können etwas erreichen.“ Es gehe jetzt darum, das Notwendige als politische Energiequelle zu begreifen, das Unausweichliche entschlossen umzusetzen, und wer weiß, meint Habeck: Vielleicht erzeugt die „beispiellose Transformation“ des Landes ja sogar einen ideellen Energieüberschuss, „eine neue Art Stolz“, einen „Veränderungspatriotismus“: Die Habeck-Deutschen sollen verliebt sein ins dynamisch Bewegte und transitorisch Gelingende!

Wer weiß. Die Nachrichtenlage der vergangenen Tage hat einmal mehr verdeutlicht, wie riskant und teuer der energiepolitische Sonderweg Deutschlands ist – so riskant und teuer, dass man beinahe den Eindruck gewinnt, die Bundesregierung wolle den Erfolg ihres normativen Energieprojekts jetzt förmlich erzwingen, indem sie sich selbst unter Druck setzt, sich freiwillig alternative Handlungsoptionen aus der Hand schlägt. Man hat sich Habecks Wortgeklingel von der „entscheidenden Phase in der Geschichte dieses Landes“ daher nicht nur als Versuch der antizipatorischen Selbstkongratulation vorzustellen, sondern auch als Trommelwirbel für einen energiepolitischen Salto mortale ohne Fangnetz – übrigens auch mit Blick auf die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik. Keine andere Industrienation hat sich jemals in der Geschichte des Kapitalismus aus freien Stücken so sehr unter Wohlstandsstress gesetzt wie Deutschland – das ist die wirklich historische Dimension der so genannten „Energiewende“.    

Ende 2022 werden die letzten deutschen Kernkraftwerke abgeschaltet. Auf den Standort Deutschland kommt ein energiepolitischer Stresstest zu – mit mehr Abhängigkeit, steigenden Preisen und Angst vor Stromausfällen.
von Daniel Goffart

Deutschland hat am 31. Dezember 2021 drei Kernkraftwerke vom Netz genommen und schaltet noch in diesem Jahr die drei letzten Atommeiler ab, so sieht es der Ausstiegsbeschluss der Bundesregierung nach dem Reaktorunglück im japanischen Fukushima (und Angela Merkels Bekehrungserlebnis) 2011 vor. Und Deutschland steigt zugleich nicht erst 2038, sondern „idealerweise“ bereits 2030 aus der Kohle aus, so steht es im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung. Beide Ziele sind bereits für sich genommen mindestens anspruchsvoll: Der Stromverbrauch dürfte in den nächsten Jahren um zehn bis zwanzig Prozent steigen (etwa wegen der Elektrifizierung des Verkehrs und der Produktion von „grünem“ Wasserstoff); die Kohle ist mit mehr als 28 Prozent immer noch Deutschlands Elektrizitätsquelle Nummer eins; der Anteil der Atomkraft am deutschen Strommix lag im ersten Quartal 2021 noch immer bei einem Achtel. (Droht uns der Blackout? Mehr dazu lesen Sie hier in der Analyse von Daniel Goffart)

Aber zu den Folgen der politisch gewollten Ausstiegsbeschlüsse gehört eben auch, dass sich Deutschland auch strategiepolitisch knebelt, weil wir auf dem Weg in eine klimaneutrale Wirtschaft nicht auch noch gleichzeitig auf Erdgas (etwa aus Wladimir Putins Russland) verzichten können. Der deklamatorische Einspruch vor allem grüner Politiker gegen den Vorschlag der EU-Kommission, für eine Übergangszeit (auch) die Stromgewinnung aus Kernkraft- und Gaskraftwerken als „nachhaltig“ einzustufen, ist daher vor allem für sie selbst peinlich: Deutschland braucht in den nächsten zwanzig Jahren Kernkraft oder Gas. Richtig ist, dass an der Atomkraft lediglich die Strahlung des Mülls nachhaltig ist und fossiles Gas perspektivisch durch grünen Wasserstoff ergänzt werden kann. Aber nähmen die Grünen ihre Einschätzung der „Klimakrise“ als prioritär zu adressierende „Menschheitsaufgabe“ beim Wort, müssten sie konzedieren, dass auch die Kernkraft eine bedeutsame Rolle als (auslaufende) „Brückentechnologie“ spielen könnte; nicht umsonst ist der CO2-Ausstoß pro Kopf in Atom-Frankreich derzeit noch geringer als in Kohle-Deutschland.

Die Stromtrasse Suedlink ist das Kernprojekt der Energiewende. Doch sie ist um Jahre im Verzug und schon zu schmal. Was ist da so schwierig? Ein Besuch im Leinetal.
von Florian Güßgen

Hat man sich aber (aus sehr guten Gründen) gegen die Kernkraft und die Kohle entschieden, sollte man mit Blick auf die Gasabhängigkeit des Landes (Industrie, Wärmeerzeugung) in nächsten anderthalb Dezennien besser keinen Konflikt mit Putins Russland eskalieren. Die Mahnungen von Außenministerin Annalena Baerbock, Moskau würde im Falle eines Einmarsches in die Ukraine einen „hohen Preis“ zahlen, klingen seltsam hohl, setzt man sie in Beziehung zur unausgesprochenen Drohung Russlands, dass Deutschland einen noch viel größeren Preis zu zahlen hätte, sollte Putin Westeuropa im Krisen- oder Kriegsfall den Gashahn zudrehen.

Vergessen wir also schnell die Brüsseler „Taxonomie“; es geht hier nur um ein Signal für die klimafreundliche Geldanlage, also darum, privates Investorenkapital in die gewünschten Kanäle zu schleusen. Und bei aller Kritik an der  kühlen Rationalität (und am kalten Materialismus) der Finanzmarktakteure: Genau diese Kälte spielt in den nächsten Jahren ganz gewiss nicht einer perspektivisch schrumpfenden Fossilgasindustrie und schon gar nicht Altlobbyisten einer Kernkraft in die Hände, die sich privatwirtschaftlich noch nie gerechnet hat und inzwischen auch abzüglich der sozialisierten Haftungs- und Müllverarbeitungskosten viel teurer ist als Windkraft und Fotovoltaik. Kurzum: Man darf gern allgemein kritisieren, dass das Kapital immer (nur) dahin geht, wo es die höchsten Renditen gibt. Aber in diesen Fall spielt es erkennbar den klimapolitischen Selbstverpflichtungszielen der Staaten und insbesondere den politisch induzierten „Green New Deals“ in Europa und den USA in die Hände.

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