Drittens: Keine Partei hat in den vergangenen Jahren den Begriff der „Freiheit“ so sehr ausgedünnt, so sehr verflacht, so sehr ausgehöhlt wie die Liberalen. Er ist nicht mehr negativ wie früher indem er die "Freiheit von" etwas (Hunger, Unterdrückung etc.) einer "Freiheit zu" etwas (Mitbestimmung, Selbstverwirklichung) logisch vorzieht, sondern er beschreibt heute – dürrer denn je – eine Freiheit, sich jeder Politik zu enthalten. Damit verfehlt ausgerechnet sie den ursprünglichen, bürgerlichen Sinn von Freiheit mehr als alle anderen Parteien – nämlich den Sinn, gemeinsam an der Gestaltung des Staates mitzuwirken statt diese Gestaltung einem Einzelnen, dem wohlmeinenden Monarchen, zu überlassen. Stattdessen perhorresziert die FDP den Staat zum Kollektiv-Leviathan, der sich ausschließlich gegen seine Bürger richtet. Alles FDP-Regieren ist daher strukturell schizophren, zynisch, defensiv, bloße Abwehr von Politik - eine "Politik", die nur noch dazu da ist, um eine Wirklichkeit, so wie sie ist, sich möglichst ungestört vollziehen zu lassen. Eine solche "Politik" gibt sich nicht die Blöße des gestalten wollenden Arguments, sondern versteckt sich im gleißenden Licht der pseudoliberalen Parole, mit der Abwesenheit jeder „Politik“ sei dem Land am besten gedient. Es ist eine zutiefst antiaufklärerische Politik, eine Politik, die stets die Beste aller Welten vorfindet, um jeden Eingriffsversuch als Störung des Gleichgewichts zu denunzieren: Leibniz meets Smith - das ist der Kern der FDP-Freiheit. Dass eine Freiheit heute aktiv ergriffen und qualitativ aufgeladen werden muss, davon weiß die negative FDP-Freiheit nichts. Ihre Freiheit besteht darin, das Menschenrecht auf Billigschnitzel und Tempo 220 zu verteidigen. Ihre Freiheit fördert die nachträgliche Legalisierung von Steuerbetrug (kein Ankauf von Steuer-CDs) – und denunziert die Freiheitsbeförderung von Frauen im Berufsleben (Quote) als unziemliche Einmischung des Staates.
Viertens: Die FDP hat das Land in den vergangenen Jahren so scheinliberal schlechtgeredet wie SPD und Grüne es scheinlinks schlechtgeredet haben. Und natürlich fallen ihre Anhänger, kaum ist die Wahl verloren, sogleich in den alten Plattitüdenliberalismus zurück: Das Land steht mit einer „sozialdemokratisierten CDU“ am Abgrund und wird von der „staatsgläubigen SPD“ in Richtung Apokalypse geritten, schlimm, schlimm, aber was sollen wir - die einzigen verbliebenen Freiheitskämpfer, jetzt auch noch APO - bloß machen; die Menschen wollen sich halt bevormunden lassen, in Sicherheit wiegen, dem „Mutti-Staat“ überlassen anstatt mit Flexibilität und Effizienz zu überzeugen, mit Mut und Kraft und Selbständigkeit… blabla-blabla – so oft wurden diesen Phrasen von Westerwelle, Rösler, Bahr eingespeichelt, abgelutscht und wiedergekäut, bis es zuletzt wirklich nur noch 4,8 Prozent der Wähler ertragen konnten. Muss man wirklich noch darauf hinweisen, dass die FDP eine „linke Wirklichkeit“ konstruiert, die es gar nicht (mehr) gibt? Hallo, liebe FDP-Freunde, aufwachen! Wir leben nicht mehr in Gewerkschaftszonen und Besitzstandswahrungsbezirken! Land und Leute sind in diesem Jahrtausend nicht nach links gerückt, sondern im Gegenteil: Land und Leute haben sich längst geschmeidig gemacht! Die Renten stagnieren, die Eigenvorsorge nimmt zu, Urlaubstage werden gestrichen, dreizehnte Monatsgehälter gekürzt, die Geschäfte haben rund um die Uhr geöffnet und selbstverständlich wird auch samstags gearbeitet. Der Arbeitsmarkt ist bunt wie nie, es gibt variable Zeiten und atmende Firmen, Betriebsvereinbarungen und Öffnungsklauseln, halbe Stellen, ganze Stellen, Gutverdiener, Schlechtverdiener, kurz: es gibt nicht mehr die eine, tariflich fixierte Arbeits-Wirklichkeit, sondern unendliche viele Arbeitswirklichkeiten. Vor allem aber: Die meisten Menschen strengen sich an und gehen jeden Morgen schaffen, sie zahlen brav Steuern und murren nicht einmal bei stagnierenden Reallöhnen. Sie alle des Neides verdächtigen, wenn sie die Selbstbereicherung der Management-Eliten beklagen, ihnen allen wieder und wieder die „Leistung muss wich wieder lohnen“-Schallplatte vorspielen - Entschuldigung aber, geht‘s noch?
Genug. Wir halten fest: Deutschland rückt nicht nach links, sondern ist seit den 1980er Jahren viel liberaler geworden, viel aufgeschlossener und wettbewerblicher, viel weniger staatsgläubig und noch viel mehr weniger gewerkschaftsorientiert. Und das ist auch gut so.
Womit wir bei der SPD wären, die immer noch nicht recht weiß, ob sie das neue Deutschland - das sich der Reformbereitschaft ihres ehemaligen Vorsitzenden und Kanzlers Gerhard Schröder verdankt - gut finden soll. Dass die SPD sich in weiten Teilen noch immer ihres grandiosen Erfolges schämt, das Land durch Sozialreformen einigermaßen krisenfest gemacht zu haben und dass die SPD damit Bundeskanzlerin Angela Merkel auch noch die Chance einräumt, diesen Erfolg frech für sich zu reklamieren – es ist und bleibt ein Rätsel. Dass die SPD es darüber hinaus nicht geschafft hat, Union und FDP davon abzuhalten, notwendige Korrekturen als „Linksruck“ zu denunzieren, ist ein weiteres. Denn die Öffnung des Niedriglohnsektors und die Einführung der Zeitarbeit vor zehn Jahren waren genau so dringend nötig wie heute ein gesetzliches Vorgehen gegen Lohndumping und den Missbrauch von Werkverträgen nötig ist.