Tauchsieder

Die Hessenwahl könnte die politische Befreiung bringen

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Deutschland, wir müssen reden

Der Bruch der Koalition in Berlin wäre, man muss es so deutlich sagen: eine Befreiung. Zu gefährlich groß ist das Gefälle zwischen dem Klein-Klein in Berlin und zahlreichen großen Fragen geworden, die nach Neuorientierung und Selbstbestimmung, nach Mut und Haltung, nach Diskurs und Handlungsfähigkeit verlangen – zu groß der Graben zwischen der provinzschaubühnenreifen Innenrummelei in Berlin und den weltpolitischen Fakten, die (andere) Staaten, Großkonzerne und das politisch vermachte Großkapital schaffen.

Die Nachrichten der beiden vergangenen Wochen haben es beispielhaft gezeigt. Professionelle Geldjongleure haben europäische Steuerzahler mit Karussellgeschäften um geschätzte 55 Milliarden Euro erleichtert. Volkswagen-Chef Herbert Diess stellt wegen des Diesel-Skandals 25 Milliarden Euro zurück, die dem Konzern für versäumt-verträumte Innovationen fehlen – und warnt jetzt allen Ernstes Berlin, die Autoindustrie könne wegen neuer CO2-Vorgaben aus Brüssel „schneller abstürzen als viele glauben wollen“.

In der Türkei wird ein saudischer Regimekritiker ermordet – und Siemens-Chef Joe Kaeser muss ein Geschäftsreise abblasen, um sich dem politischen Momentandruck einer heillos opportunistischen Bundesregierung zu beugen, die das Land seit Jahren mit Waffen beliefert, obwohl die Saudis nach Angaben von Amnesty International diskriminieren, foltern, einsperren, hinrichten – und mitverantwortlich sind für eine sich abermals anbahnende Hungerkrise im Jemen. Und in den USA regiert ein Präsident, der Herabwürdigung und Hetze zum (Wieder-)Wahlprogramm erhebt, der Demokraten anfeindet und mit Diktatoren kuschelt – der so tut, als sei Hillary Clinton eine Hexe und Saudi-Prinz bin Salman ein ehrenwerter Mann.

Am Sonntag entscheiden die Wähler auch, wer von CDU und Grünen in der bisherigen Koalition zweier sehr unterschiedlicher Parteien von der langen Leine profitiert hat. Es ist das Gegenmodell zur GroKo in Berlin.
von Cordula Tutt

Deutschland, wir müssen reden. Über eine europäische Mehrwertsteuer auf Finanzgeschäfte (nicht über eine Mini-Transaktionssteuer auf G20-Ebene) zum Beispiel. Über den Innovationswillen der Autoindustrie, die Pkw-Libido der Deutschen und eine Mobilitätswende (weniger über Grenzwerte an ein paar stark befahrenen Straßen). Über die Frage, an welchen Werten, Leitlinien und Interessen entlang wir unsere Außenwirtschaftspolitik gegenüber Ländern wie China, Russland, Türkei und Saudi-Arabien ausrichten wollen.

Über die Frage, in welchen Ländern deutsche Unternehmen unter welchen Bedingungen Geschäfte abschließen dürfen, darüber, wieviel Geld welcher chinesischen und arabischen Staatsfonds in welche deutschen Unternehmen fließen soll – und wie viel Geld welcher Personen und Briefkastenfirmen in deutsche Städte und Immobilien. Kurzum: Über die Frage, wie stark oder schwach die liberalen Demokratien des Westens sind, wenn sie sich (außen-)wirtschaftspolitisch selbst das Wasser abgraben – und sich innenpolitisch destabilisieren, seit Präsidenten in den USA und Parteiführer in Europa an der Ausbeutung von Statusunsicherheit und Orientierungsverlust arbeiten; seit ihre Sprache und ihr Rechtspopulismus, ihr Hang zur Postfaktizität und Legendenbildung, ihre Denunziationslust der „Altparteien“ und der „Systempresse“, ihr binäres Freund-Feind-Denken und ihre humanitätszersetzender Fremden- und Linkenhass Teile der Bevölkerung elektrisieren.

Merkel – „Wir müssen Rot-Rot-Grün in Hessen verhindern“

Wir müssen außerdem reden über die technologischen Revolutionen der Künstlichen Intelligenz und den Welterlösungseifer des Silicon Valley, über den Klimawandel und die Rohstoffknappheit, über Islamismus, Terrorismus, Autokratismus, Nepotismus, die finanzielle Exterritorialität der Superreichen und die wachsende Ungleichheit – von der Einheit Europas und Deutschlands einmal zu schweigen: vom tiefen Riss, der durch den Kontinent und Deutschland geht, 29 Jahre nach dem Mauerfall: Wollen Union, SPD, FDP und Grüne künftig allen Ernstes gegen eine 45-Prozent-Opposition aus AfD und Linken im Osten regieren?

Man hat zu diesen vielen Fragen nicht einen einzigen substanziellen Satz der Kanzlerin im Ohr, das vor allem muss man ihr anlasten: dass ihr politisches Erbe spindeldürr ist. Dass sie die Probleme des liberalen Westens, Europas, Deutschlands bestenfalls bearbeitet wie ein Schiffsjunge, der ein paar Lappen in kleinere Lecks stopft – ohne dabei zu bemerken, dass das Schiff selbst in eine bedrohliche Schieflage geraten ist.

Aber darum kann es doch wohl nicht am Sonntag in Hessen gehen? Eigentlich nicht. Diesmal doch. Eigentlich nicht. Diesmal doch? Viel Spaß beim Wählen, liebe Hessen!

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