Tauchsieder

It’s the people, stupid!

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„Die Arbeit hat den Vorrang vor dem Kapital“

Dahinter steht die Einsicht in die Elementartatsache, dass keine „Selbstverwirklichung“ im Alleingang gelingen kann, sondern nur in mitmenschlicher Solidarität. Dass die individuelle Freiheit selbstverständlich an der individuellen Freiheit des Nächsten ihre Grenzen findet. Und dass das Recht auf Inbesitznahme durch Arbeit allein denkbar ist, wenn man die Sozialgebundenheit allen Eigentums mitbedenkt. Schließlich sind die Erde und deren Güter, so der schöpfungsökologische Grundgedanke, „dem ganzen Menschengeschlecht gegeben“.

Weil es diese Güter aber nicht in unbegrenzter Fülle gibt, braucht es „eine bewusste Antwort des Menschen auf die Gabe Gottes“, ein „wirtschaftliches Gemeinschaftswerk“, so die katholische Soziallehre: die auf viele Schultern verteilte Arbeit. Sie sei einerseits mit Blick auf das Ziel zu organisieren, dass die Erdengüter allen zugute kommen (was am erfolgreichsten geschehe, wie gesagt, wenn sie in persönlicher Verantwortung bewirtschaftet werden) - und andererseits mit Blick auf die Würde und Rechte jedes einzelnen Menschen: „Die Arbeit hat den Vorrang vor dem Kapital“, heißt es lakonisch in Laborem exercens.

Vielleicht das Erstaunlichste an der Ethik der katholischen Soziallehre ist, dass ihr zeitgebundenes Schrifttum keine Theorie ergibt, aber dennoch von zeitloser Kraft und globaler Bedeutung ist.

Der Politologe Carsten Frerk fordert ein Ende der Privilegien für die christlichen Kirchen und plädiert dafür, sie wie Wirtschaftsverbände zu behandeln.
von Christian Schlesiger

Leos Einspruch gegen die existenzielle Not von Arbeitern, für Lohngerechtigkeit und politische Intervention ist mit Blick auf die Lebensbedingungen etwa in Bangladesch hochaktuell. Die sozialökologische Dimension des Eigentums wird heute auf internationalen Konferenzen unter den Stichworten Allmende, Klima und Generationengerechtigkeit diskutiert. Und die „Würde der Arbeit“ macht im reichen Westen als Wunsch nach Sinn und Selbstveredelung oder auch in der Aufwertung alles Handwerklichen eine zweite Karriere.

Selbst die „Subsidiarität“, das altföderale Prinzip, das den Wert der kleineren Einheit preist, hat angesichts der Geldkonzentration an der Wall Street, der Machtkonzentration im Silicon Valley und der Bürokartiekonzentration in Brüssel seine größte Zukunft wohl noch vor sich. Der Gedanke jedenfalls, dass es, wie man sagt, „so nicht weitergehen kann“, ist angesichts eines entmenschlicht-anonymisierten, im Schatten seiner Derivate und Algorithmen operierenden Börsenkapitalismus, weit mehr als nur ein diffuses Gefühl.

„Diese Wirtschaft tötet“, hat Papst Franziskus vor zweieinhalb Jahren in Evangelii gaudium geschrieben - und damit einen Geldismus verurteilt, in dem Ausgeschlossene nicht mehr wie „Ausgebeutete, sondern wie Müll“ behandelt werden. Wenn Franziskus damit (auch) gemeint hat, dass der (real)wirtschaftende Mensch im Selbstverständnis der Wall Street nicht mal mehr Ressource ist, sondern im Zweifel nur noch etwas Überflüssiges, Wertloses, dann trifft er damit einen höchst empfindlichen Punkt.

Kann es sein, dass mit dem zivilisatorischen Fortschritt auch die algorithmisch gestützte Entmenschlichung der Wirtschaft fortschreiten wird? Die katholische Soziallehre, so viel scheint sicher, wird uns darüber auch in den nächsten 125 Jahren auf dem Laufenden halten.

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