Tauchsieder

Berliner Ampel(alb)träume

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Die CDU muss schleunigst einen respektablen Kandidaten präsentieren

Ein weiteres Problem für die Union: Laschet (übrigens auch Markus Söder) ist als Ministerpräsident nicht nur zur dauernden Korrektur seiner Fehleinschätzungen und temperamentgetriebenen Fahrlässigkeiten („nicht immer neue Inzidenzzahlen erfinden...!“) verdammt, sondern auch zur politischen Kleinteiligkeit. In der vergangenen Woche etwa schätzte der Oberbürgermeister von Dortmund die angespannte Infektionslage in Nordrhein-Westfalen realistischer ein als der Ministerpräsident, weshalb sich Laschet im Regionalfernsehen wahnsinnig über ihn ärgerte – und den vorausschauenden Kommunalchef darüber belehrte, dass die Inzidenzzahl in dessen Stadt doch noch nicht ganz so hoch sei, wie behauptet.

Es war dieselbe Woche, in der US-Präsident Joe Biden Russlands Präsident Wladimir Putin einen „Mörder“ nannte. Dieselbe Woche, in der Antony Blinken, der neue Außenminister der USA, China vorwarf, die Demokratie in Hongkong und Taiwan mit „Zwang und Aggression“ zu untergraben und ankündigte, nötigenfalls die Konfrontation mit Peking zu suchen. Dieselbe Woche, in der der britische Premier Boris Johnson mahnte, der Westen müsse die „Kunst der Behauptung gegenüber Staaten mit entgegengesetzten Werten wieder erlernen“.

Gewiss, dafür kann Laschet nichts. Aber die Pandemie konsumiert den CDU-Chef, der Bürgermeister den Ministerpräsidenten, die unionsinternen Skandal- und Kritikkaskaden den Kanzlerkandidaten. Laschet hat zu wenig Zeit, Ruhe und Rückhalt für kleine Gastauftritte auf der Weltbühne – und der Eindruck verfestigt sich, auch in Teilen der Union, er habe auch nicht das Format – es sei vielleicht das Beste für ihn, auch 2022 in der Landesliga zu spielen.

Der Bedarf am „Auf Sicht fahren“ ist aufgebraucht. Das Superwahljahr wird die belohnen, die sich als Spielmacher des Neuen zu erkennen geben, als Krisenlotsen.

Für die Union stellt sich die Lage mit Blick auf die Bundestagswahl im September daher ganz einfach dar. Erstens: Sie muss jetzt schleunigst einen respektablen Kandidaten präsentieren, der auch welt- und europapolitisch Flagge zeigt – der signalisiert: Ich kann Kanzler. Ich will Kanzler. Die Zeit drängt, das ist allen Beteiligten klar: Spätestens in vier Wochen ist mit einer Einigung zwischen Laschet und Söder zu rechnen, also lange vor Pfingsten.

Zweitens gilt: Entweder die Union bekommt die Pandemie noch in den Griff – oder sie riskiert ihre Selbstauswechslung. Entweder sie sichert den Deutschen mit einem forcierten Impfprogramm ein paar Strandquadratmeter auf Mallorca im Sommer – oder sie wird abgewählt. Entweder regelmäßig getestete Kinder und Jugendliche strömen Anfang September wieder in die Schulen – oder die Deutschen optieren für einen Neustart.

Olaf Scholz, der als Vizekanzler und Finanzminister mit internationaler Erfahrung punkten kann, wartet nur darauf, den Deutschen diesen Neustart anbieten zu können: als pater familias einer Innovationspartnerschaft, in der die Grünen das Klima bessern und die Verkehrswende besorgen, in der die FDP die Gesundheitsämter digitalisiert und Beamte aufscheucht – und in der er selbst, König Olaf, sich für die soziale Balance und fair bezahlte Arbeit, für wechselseitigen Respekt und den Ausgleich aller Interessen zuständig weiß: zum Wohle des Ganzen.

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Natürlich bleibt rätselhaft, warum die Deutschen ausgerechnet ihm, dem Vizekanzler, diesen Neustart zutrauen sollten. Aber als Dompteur einer „Innovationskoalition“ mit unbedingt regierungswilligen Grünen und Liberalen könnte sogar Scholz noch mehr politischen Sex-Appeal entwickeln als Laschet oder Söder mit der Aussicht auf eine weitere Schwarz-irgendwas-Koalition. Und wenn Anfang Mai die Grünen das Rennen ums Kanzleramt komplettieren, womöglich mit Annalena Baerbock, die die Aussicht auf eine ganz unverbrauchte Repräsentations- und Amtsästhetik verkörpern würde, ist das parteipolitische Feld tatsächlich: so offen wie lange nicht.

Mehr zum Thema: Der Bedarf am „Auf Sicht fahren“ ist aufgebraucht. Das Superwahljahr wird die belohnen, die sich als Spielmacher des Neuen zu erkennen geben, als Krisenlotsen. Ein Gastbeitrag.

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