Tauchsieder
Quelle: dpa

Die Corona-Schlafwandler

Niemand hat die Pandemie kommen sehen? Von wegen. Mit SARS-CoV-2 war unbedingt zu rechnen. Virologen und Politiker haben das Offensichtliche ignoriert. Wiederholen sie mit forcierten Lockerungsübungen ihre Fehler?

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In dieser Woche haben sich Politiker und Epidemiologen noch einmal wechselseitig versichert, dass man immer noch „zu wenig wisse“ über das neuartige Coronavirus. Man wisse etwa nicht, ob Kinder, ähnlich wie im Fall der Grippe, besonders starke Multiplikatoren bei der Verbreitung von SARS-CoV2 darstellen oder ob eher das Gegenteil der Fall sei. Man könne nur erahnen, warum die Letalität in Deutschland noch vergleichsweise niedrig ist und in welchem Bereich sich die Sterberate der Covid-19-Krankheit überhaupt bewege, man könne allenfalls Vermutungen darüber anstellen, wie viele Menschen erkrankt sind, ob genesene Patienten sich erneut anstecken können - und wie viele junge, gesunde Menschen mit schweren Krankheitsverläufen zu rechnen haben. Was man inzwischen wisse, darüber hat uns Christian Drosten, der sympathische Institutsdirektor der Virologie an der Charité Berlin, am Donnerstagabend in einer ZDF-Talkrunde aufgeklärt: Selbstgenähte Behelfsmasken sind wirksam, das hätten neue Studien kurz vor den Ostertagen erwiesen. Allerdings sagte Drosten nicht, wie wirksam diese Masken sind. Ich schätze mal - man weiß es noch nicht.

Das Problem: Die ständige Berufung auf das Nicht-Wissen ist aus wissenschaftlicher Sicht so banal wie irreführend - und aus zwei Gründen gefährlich. Banal, weil das Leitmedium „Wahrheit“ die (Natur-)Wissenschaften codiert, um es systemtheoretisch auszudrücken: Forscher wollen aus Prinzip alles nur zu genau wissen. Im Umkehrschluss heißt das: Alles, was für Wissenschaftler nicht beweisbar, nicht hieb- und stichfest ist, steht unter Vorbehalt - ist so lange nicht richtig, bis die Falsifizierbarkeit des Erforschten (im Rahmen der herrschenden Paradigmen) zweifelsfrei ausgeschlossen werden kann.

Schon Niklas Luhmann hat allerdings auf das Paradoxon hingewiesen, dass „Wahrheit“, verstanden als abgeschlossenes Wissen, eine Art „Erschöpfungszustand“ der Wissenschaft darstellen würde - eine Kristallisation von Wissen, die jede weitere Wissenschaft erübrigen würde. Daran dürften zuletzt die Wissenschaftler selbst interessiert sein. Es geht ihnen daher auch keineswegs um das Verfertigen abgeschlossener Theorien. Statt dessen ist Wissenschaft nur als unabschließbarer, kritischer Prozess begreifbar, der sich ironischerweise an einem theologischen Begriff von (letztgültiger) Wahrheit orientiert - und deren Offenbarungen im Wege der Exegese zugleich permanent hinterfragt.

Im Klartext heißt das: Ein Wissenschaftler muss jederzeit damit rechnen, dass seine Forschungen auf Einwände stoßen, dass sie sich eben nicht als wasserdicht erweisen. Wenn also ein Forscher wie Christian Drosten davon spricht, dass man noch „zu wenig wisse“ über das neuartige Coronavirus, muss man wissen: Christian Drosten wird auch in zwei Jahren noch zu wenig wissen - es sei denn, er verstünde sich dann nicht mehr als Wissenschaftler.

Das ist einerseits begrüßenswert: Wir vertrauen uns Menschen wie Christian Drosten mit unserem Nicht-Wissen gerade deshalb so gern an, weil auch sie niemals tun, als wüssten sie alles - Hand in Hand tastet es sich angenehmer durch unsichere Zeiten. Gleichwohl ist die ständige Berufung auf das Nicht-Wissen in der so genannten Coronakrise auch gefährlich. Und das zunächst einmal deshalb, weil das Nicht-Wissen Regierungspolitikern erlaubt, sich selbst die Absolution zu erteilen für Versäumnisse und Fehler, für Willkürdekrete (warum Autohäuser?) und die Verabschiedung von Milliardenprogrammen zu Lasten künftiger Generationen.

Die meisten Deutschen neigen in diesen Wochen dazu, die Verantwortlichen für ihre Umsicht zu loben: Man erblickt in der Kanzlerin und Minister(präsidente)n postheroische Heldenfiguren mit unternehmerischen Qualitäten, wie sie traditionell vor allem in der Managementliteratur gefeiert werden: als vorzügliche Kybernetiker, die die Gesellschaft bestmöglich durch eine Lage steuern, die sich durch hohe Komplexität, eine geringe Prognostizierbarkeit und eine defizitäre Informationsbasis auszeichnet. Alle Umfragen sprechen dafür, dass die Deutschen sehr zufrieden damit sind, wie Merkel und Olaf Scholz, Jens Spahn und Markus Söder uns durchs Offene hindurch ins Offene hinein führen. Daran mag vieles richtig sein, vor allem medizinpolitisch - seit wir den epidemiologischen Kipppunkt überschritten haben: Welcher Covid-19-Erkrankte wollte in diesen Wochen nicht bevorzugt in Deutschland an Covid-19 erkrankt sein?

Aber wie wollen Politiker die Marktkonkurrenz um Schutzmasken verhindern, die vor allem in Kliniken und Pflegeheimen gebraucht werden? Warum gibt es noch immer keine Smartphone-Applikation, mit deren Hilfe sich Infektionsketten leicht nachverfolgen und unterbrechen ließen? Warum scheinen Länder wie Taiwan, Südkorea und Israel, vielleicht auch China, die Welle der Neuinfektionen nicht nur abflachen, sondern vielleicht sogar brechen zu können? Waren einige diese Länder vor allem deshalb besser vorbereitet, weil sie nicht auf alle Fragen eine Antwort hatten, sondern nach den Erfahrungen mit SARS und MERS schneller und entschlossener reagierten - und auf der Basis stabilen Nicht-Wissens sofort mit dem Schlimmsten rechneten?

Was also, wenn der Schlüssel zur erfolgreichen Bekämpfung der Pandemie nicht im Wissen der Wissenschaft liegen würde und die Bewertung ihrer gesundheitlichen und ökonomischen Kosten nicht im scheinbar klugen „flatten-the-curve“- und „hammer-and-dance“-Management der Politik - sondern im richtigen Risikomanagement vor und nach dem eingetretenen Schadenfall? Die Politik muss sich schon zwei Fragen gefallen lassen. Erstens: Musste es soweit kommen, dass das Virus uns beherrscht - oder hätten wir es womöglich beherrschen können? Und zweitens: Gibt es wirklich keine Alternative zur schrittweisen Durchseuchung der Bevölkerung - bis ein Impfstoff oder Medikament gefunden ist?

Eine Antwort auf die erste Frage fällt leicht: Nein, es musste nicht soweit kommen, dass das Virus uns beherrscht. Und zwar ganz einfach deshalb nicht, weil mit seinem Auftreten unbedingt gerechnet werden musste. Das Erscheinen des Virus ist kein „schwarzer Schwan“, also kein sehr seltenes und unwahrscheinliches Ereignis, sondern im Gegenteil: ein schneeweißer Schwan, der seit vielen Jahren vor unser aller Augen seine Runden zieht. Und der Staat, dessen primäre Aufgabe darin besteht, die Bürger, die er repräsentiert, zu beschützen, ist, wie schon in der Finanzkrise 2008, seiner primären Aufgabe nicht gerecht geworden. Er hat damals, mit weit geöffneten Deregulierungsaugen, an den Risiken eines finanzmarktliberalen Staatsschuldenkapitalismus vorbeigesehen - und er hat diesmal, blind vor Vertrauen in die Segnungen einer hochgetrimmten Weltwirtschaft, die Möglichkeiten medizinischer Hochseilartistik und die Missionen eines technologischen Solutionismus, das sichere Eintreffen einer Pandemie ignoriert.

Bill Gates warnt vor Folgen

Die prominenteste Warnung stammt bekanntlich von Bill Gates: „Wenn etwas in den nächsten Jahrzehnten über zehn Millionen Menschen tötet, wird es höchstwahrscheinlich ein hochansteckendes Virus sein“, sagte der Microsoft-Gründer im Jahr 2015 in einer Videobotschaft, und: „Wir sind für die nächste Epidemie nicht gewappnet.“ Gates hielt den Vortrag unter dem Eindruck der Ebola-Epidemie in einigen westafrikanischen Ländern, der rund zehntausend Menschen zum Opfer fielen. Und seine zentrale Botschaft war klipp und klar: Die Menschen weltweit haben Glück gehabt, weil Ebola nicht durch die Luft übertragen werde und nur ansteckend sei, wenn Erkrankte bereits das Bett hüteten: „Ein anderes Virus kann schon übertragbar sein, wenn sich die Kranken noch gesund fühlen, in ein Flugzeug einsteigen oder einkaufen gehen.“

Warum hat niemand auf Bill Gates gehört? Der Mann ist kein Milliardär wie viele andere, sondern ein fachlich hochversierter Laie. Gates hat sich seit Jahren der Bekämpfung weltweiter Krankheiten verschrieben. Er führt mit seiner Frau Melinda die größte Privatstiftung der Welt, ausgestattet mit einem Stiftungskapital in Höhe von rund 37 Milliarden Dollar und 1400 Mitarbeitern. Er hat geholfen, die Kinderlähmung auszurotten, und zählt den größten Finanziers der Weltgesundheitsoganisation WHO. Kurzum: Gates“ gesundheitspolitisches Wort sollte zählen. Und es zu missachten, grenzt an Fahrlässigkeit. Als habe es dafür eines Beweises bedurft, kofinanzierte die Gates-Stiftung im Oktober 2019 die Simulation eines Coronavirus-Ausbruchs an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore. Eine Gruppe von Politikern und Beamten stand vor der Aufgabe, die Pandemie zu stoppen oder aber ihre Folgen zu minimieren. Das Ergebnis: 65 Millionen Tote.

Bill Gates hat damals Verantwortungsträger auf drastische Weise mit dem Gedanken vertraut gemacht, sie seien nicht gut vorbereitet auf das, was zwingend auf sie zukommt. Zwingend? Ja, genau: zwingend. Um das zu verstehen, reicht ein einfaches Gedankenspiel mit Wahrscheinlichkeiten. Nehmen wir also an, die Chance, dass ein Virus in die Welt kommt, das so ansteckend ist wie die Masern und so verheerend wütet wie Ebola, liegt bei 0,001 Prozent, heißt das im Umkehrschluss: Die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Virus in die Welt kommt, liegt bei 100 Prozent: Wir können also todsicher auf sein Erscheinen zählen - die Frage ist allein, wann es so weit sein wird, schon morgen oder erst in 1000 Jahren.

Insofern hat die populäre Metapher von den „schwarzen Schwänen“ schon immer mehr Verwirrung als Klarheit gestiftet: Ihr Erfinder, der Publizist Nassim Nicholas Taleb, suggerierte, das Erscheinen zufälliger Unerwartbarkeiten kennzeichne die Moderne - obwohl sie sich, ganz im Gegenteil, als Produktionsstätte sichtbarer Wahrscheinlichkeiten auszeichnet. Konnten unsere Vorfahren beispielsweise noch jederzeit von elementaren Gefahren überrascht werden, stehen uns heute mehr oder weniger beherrschbare (Rest-)Risiken jederzeit klar vor Augen - wie jeder weiß, der schon mal mit klopfendem Herzen in ein Flugzeug gestiegen ist.

Die Finanzkrise hat Bankmanager daher nicht in Form eines „schwarzen Schwans“, sondern als Gewissheit erreicht, der sie, runduminformiert von Risikomanagern, ins Auge sahen. Und die Coronapandemie stößt uns nicht etwa zufällig zu, sondern notwendigerweise: Wir waren ihr nicht als Gefahr ausgesetzt, für deren Auftreten niemand etwas kann; Vielmehr ist es so, dass Politiker und Epidemiologen keine Vorkehrungen getroffen haben, um das Risiko auf der Basis des Gewissen angemessen zu adressieren. Ironischerweise hat der Präsident des Robert-Koch-Institutes, Lothar Wieler, noch am 24. Januar 2020 gestanden, das neuartige Coronavirus zu wenig zu kennen. Sein Nicht-Wissen reichte damals, um betont locker zu tun, während es heute dafür herhalten muss, vor zu schnellen Lockerungen zu warnen.

von Benedikt Becker, Sven Böll, Sophie Crocoll, Max Haerder, Cordula Tutt

Dabei hat auch Nassim Nicholas Taleb sehr früh darauf aufmerksam gemacht, dass die Pandemie niemanden überraschen könne: Die zunehmende globale Verflechtung - Geschäfts- und Reiseverkehr, Handelsbeziehungen, optimierten Logistikketten - hätten die Fragilität des Wirtschaftssystems, die Risiken einer Pandemie und ihrer ökonomischen Folgen stark erhöht, warnte Taleb bereits im Januar - und empfahl drastische Einreisebeschränkungen und Kontaktsperren. Wären sie konsequent umgesetzt worden, ohne (anfängliche) Rücksicht auf Fluggesellschaften und die Touristikbranche, auf den Geschäftsreiseverkehr und Lieferketten - wären die Kosten für Wirtschaft und Gesellschaft womöglich deutlich niedriger ausgefallen.

Und heute? Sind wir dabei, unsere Fehler zu wiederholen? Die Beispiele Taiwan, Südkorea, Israel, vielleicht auch Island deuten an, dass die Infektionskurve mit dem konsequenten Einsatz von Masken und mit millionenfachen Tests, mit konsequenten Einreisebeschränkungen und einer Smartphone-App, die Menschen nach dem Kontakt mit einem Infizierten zur Selbstquarantäne auffordert, nicht nur abgeflacht, sondern womöglich gebrochen werden kann. Wenn sich aber die „Reproduktionsrate“ des Coronavirus auf diese Weise drücken und unter „eins“ halten ließe oder wenn gar China bewiese, konsequente Ausgangssperren könnten das Virus „besiegen“ - wie stünden dann am Ende die USA und Europa, wie stünde auch Deutschland da, wenn ihre Regierungen dennoch den „Tanz mit dem Virus“ wagten und Zehntausende von Toten zuließen?

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