Tauchsieder
Balkon eines Bauernhauses in Oberbayern Quelle: imago images

Die CSU welkt. Bayern blüht auf

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder macht schon mal Berlin verantwortlich für sein bevorstehendes Wahldebakel. Das ist zu einfach. Und zeigt: Er hat kein Gefühl für die postmateriellen Probleme seiner Wähler.

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Am nächsten Wochenende wird in Bayern ein neuer Landtag gewählt. Und man darf bereits Wetten darauf abschließen, ob Markus Söder und seine CSU-Getreuen nach Schließung der Wahllokale den mangelnden „Rückenwind“ aus Berlin für ihr mageres 30-Prozent-Ergebnis verantwortlich machen werden - oder aber den „Gegenwind“ aus Berlin. Bereits seit zwei, drei Wochen geht es dem Ministerpräsidenten in Bayern erkennbar nur noch darum, seine vergleichsweise junge Haut zu retten – und seinem Parteifeind Horst Seehofer die Schuld an der Malaise der Christlich-Sozialen Union zuzuweisen.

Söder ist nach langen Jahren des ungeduldigen Wartens, Hechelns und Scharrens erst seit einem halben Jahr am Ziel seiner politischen Träume angelangt wird – und er will sie nicht schon so bald zerplatzen sehen. Er weiß, dass es nicht mehr um Schadens-Begrenzung geht. Sondern nur noch um Schadens-Bezichtigung. Und so ätzt „Ego-First“-Söder, dass die Regierungsfähigkeit der Koalition in Berlin durch das „Ego-First“ der Parteichefs gelähmt sei – als seien ausgerechnet ihm Dominanzstreben, Aufstiegsehrgeiz und Prävalenzeifer fremd. Haben die Wähler in Bayern tatsächlich noch einen Grund benötigt, Söder und der CSU ihre Stimme zu verweigern? Seine Selbstkarikatur als Gegenentwurf zum Berliner Machterhaltungstrio hat ihn geliefert – ihn noch einmal kenntlich gemacht als typischen Politiker alter Schule. Mit dem Unterschied, dass Söder deutlich mehr zu verlieren hat als Seehofer. Seehofer hat seine Macht jahrzehntelang ausgekostet. Söder hat sie noch nicht eine Sekunde genießen können.

Auf der Zielgeraden des Wahlkampfes ist Söder sich nicht einmal zu schade, vor „Berliner Verhältnissen“ zu warnen, um den Menschen Angst einzujagen wird – als sei es ein Menetekel, dass die CSU künftig nicht mehr allein schaltet und waltet in Bayern, wie sie will. Was Söder nicht versteht: Die meisten seiner „kleinen Leute“ wollen nicht mehr mit paternalistischer Füllhorn-Politik und blau-weißem Heimat-Chauvinismus bekümmert werden. Sie fragen nicht nach Umverteilungsmillionen aus München. Lassen sich nicht von postkartenbajuwarischen Stolzoffensiven beeindrucken. Sie sind nicht empfänglich für weißwurstdeftiges Abschiebungsgetöse in Gestalt eines kulturgeschichtlichen Kreuz-Zugs gegen den Islam. Und sie wünschen sich schon gar nicht die „alte Glaubwürdigkeit der CSU“ zurück, ganz „wie in den Zeiten von Franz Josef Strauß“.

Statt dessen zeichnet sich vor allem Bayern als nationales Prosperitätszentrum und innerdeutsches Zuwanderungsgebiet aus, dessen Menschen First-World-Problems haben: als Bundesland der hergezogenen Gutverdiener, die einen sehr großen Teil ihres Familieneinkommens für 100 Quadratmeter in Stadtrandbezirken, einen dienstwagenprivilegierten 3-er-BMW, für Kita-Gebühren und gelegentliche Ausflüge an den oberitalienischen Gardasee verwenden. Die meisten dieser Menschen lassen sich nicht in Überfremdungspanik versetzen und migrationspolitisch verängstigen, auch wenn Söder und Seehofer es seit 2017/18, in dezidierter Abgrenzung zur eigenen Sachpolitik, zur Merkel-CDU (und im Anschluss an die AfD), einträchtig versucht haben – was für ein Fehler! 

Statt dessen sind die meisten dieser Menschen an Wohlstandssicherung und einem geordneten Alltag, an der Belohnung von Fleiß und Anständigkeit im Beruf und einer sauberen Umwelt für ihre Kinder interessiert. Als Arbeitnehmern ist ihnen der betreuungsselige Paternalismus teilzeitbewegter Linksgrüner genauso zuwider wie der anglifizierte Effizienz-Positivismus der Unternehmen, in denen sie arbeiten: Sie wollen weder vor ausbeuterischen Kapitalisten beschützt noch von ihren Vorgesetzten ständig mit Ertüchtigungsfloskeln, Kreativitätsformeln und Mobilisierungskampagnen druckbeatmet werden. 

Und als Privatleute staunen sie fast täglich über das schiere Ausmaß an Verkommenheit der Macht- und Geldeliten, die ihren Job offensichtlich nicht vernünftig erledigen, sondern die aus Egoismus, Gier und Unfähigkeit das Selbstvertrauen der Deutschen in ihr Land aufs Spiel setzen: über die Hasardeure in den Frankfurter Banktürmen und die Betrüger in der Autoindustrie, über die Dax-Chefs, die sich Quartalszahlen und Gewinnzielen, Zerschlagungsmoden und Kapitalinteressen, arabischen Staatsfonds und Gewinnzielen in China oder Russland unterwerfen.

Und natürlich über Politiker, die sich den eingebildeten Zwängen „der Märkte“, „der Globalisierung“, der „Alternativlosigkeit“ und „Systemrelevanz“ ausliefern statt zum Beispiel für bezahlbaren Wohnraum und einen milliardenschweren Ausbau des Radwegenetzes zu sorgen, für eine saubere Energieerzeugung und eine Bekämpfung der organisierten Kriminalität – die die Kernkraft und den Diesel erst milliardenschwer fördert, dann verteufelt, die Klimaschutzziele erst aufstellt, dann einkassiert, die die Deutschen erst das Hohelied einer kündigungsschutzbefreiten Arbeitnehmermoderne absingen lässt, um sie dann angebotspolitisch zu sedieren mit Ansprüchen auf allerlei Kinder-, Eltern-, Teil- und Pflegezeiten.

Kurzum: Das Problem der Söder-CSU ist nicht, dass die Bayern als traditionell brave und gutversorgte Bürger unzufrieden wären mit der Zuwendung, die die Staatskanzlei ihnen angedeihen lässt. Sondern dass sie sich abwenden von einer Politik, die buchstäblich das Nächstliegende aus den Augen verloren hat: den Alltag und die unmittelbaren Interessen und Sorgen ihrer Wähler.

Nach der SPD macht nun auch die Union die Erfahrung, dass sich die gegenwärtigen und künftigen First-World-Probleme der meisten Deutschen nicht mehr mit der Wohlstandspolitik des 20. Jahrhunderts adressieren lassen. Dass beide Volksparteien an programmatischer Blutleere kranken. Mit dem Unterschied, dass die SPD mit der Durchsetzung des Mindestlohnes ihr historisches Kernprojekt (Kampf gegen die Ausbeutung) gerade erst sehr weitgehend vollendet hat, während die Union ihr Kernversprechen („Wohlstand für alle“) besonders eindrucksvoll in einer Zeit eingelöst hat, die bereits weit hinter uns liegt.

Das doppelte Problem der Union und speziell der CSU: Die Wohlständigen wollen ihren Wohlstand vor allem postmateriell gesteigert sehen: mehr Zeit, Grün und fitnessbedachte Achtsamkeit, weniger Karriere, Blech und smartphonegesteuertes Rattenrennen – das kommt derzeit (mal wieder) den Grünen zugute. Und die Nicht-ganz-so-Wohlständigen haben bei Christliberalen den Eindruck gewonnen, ihre basalen, materiellen, zuweilen existenziellen Interessen und Sorgen würden denen der Unternehmer („Arbeit gut, alles gut!“) und Investoren („Sozialer Wohnungsbau? - Es muss vor allem gebaut werden!“) untergeordnet – das kommt derzeit in Bayern den Freien Wählern und der AfD zugute. 

Zieht man den Fokus abschließend auf, kommt man leicht zu dem Schluss, dass das Dilemma der Union nicht viel kleiner ist als das Dilemma der SPD: Sie hat an zwei politischen Fronten unendlich viel zu tun. Glaubt man Arbeitsmarktforschern und Soziologen, wird sich eine gut ausgebildete, unideologische, allen Links-Rechts-Freiheits-und Verbotspartei-Schemata konsequent abgeneigte „Generation Z“ die gutbezahlten Jobs der Zukunft zu ihren Bedingungen aussuchen – und man muss kein Prophet sein, um zu wissen, dass diese Generation eine Art grüngelbe Realpolitik präferieren wird. Einerseits. Andererseits muss die Union anderswo ansprechfähig für die Nicht-ganz-so-Wohlständigen zu bleiben. Ein Teil dieser Menschen hat nicht (nur) postmaterielle, sondern (vor allem) handfeste finanzielle Sorgen: Hier, in den Großstädten, im Ruhrpott, in weiten Teilen Ostdeutschlands, ist Kümmerpolitik gefragt – als kluge Struktur- und Sozialpolitik, die weite Teile der Union bis heute aus ideologischen Gründen ablehnen, zumal dann, wenn sie von der Linkspartei angemahnt wird. Ein Spagat für die Union? Zweifellos. Aber was hat sie nach dem nächsten Sonntag, 18 Uhr, noch zu verlieren?  

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