
Fangen wir mit Jürgen Trittin an, dem Spitzenkandidaten den Grünen. Wir kennen seine politischen Vorbilder nicht, nicht seine geschichtlichen Kenntnisse, aber die Vermutung liegt nahe, dass er es mit den Aufklärern und den Fortschrittsgläubigen des 18. Jahrhunderts hält, mit Kant, Voltaire, Diderot: Der Mensch soll sich bei seinen Angelegenheiten von Vernunft statt Tradition und Religion leiten lassen, die Welt nach wissenschaftlichen Erkenntnissen verändern, sie kraft Erkenntnis statt Aberglauben zu einem besseren Aufenthaltsort machen. Auch steht zu vermuten, dass Trittin die ein oder andere Zeile von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno gelesen hat, um sich über die Dialektik der Aufklärung belehren zu lassen: Als "instrumentelle Vernunft", so die Meister der Kritischen Theorie, ist der Rationalitäts- und Fortschrittsglauben immer auch unheilvoll mit Herrschaft, Macht und Geltung legiert, kurz: mit Politik. Freilich, aus Trittins Sicht ist mit "Politik" nicht seine Politik gemeint, sondern immer die der anderen, genauer: die Politik der Systemrepräsentanten und Kulturindustriellen, die die Menschen in die Zwingburg ihrer kapitalistischen Funktionslogik sperrt, um sie zu willenlos depravierten Konsumtieren herabzuwürdigen - weshalb es ihm selbst, Jürgen Kant Trittin, vorbehalten ist, sie aus den Fesseln der Unmündigkeit zu befreien.
Vielleicht lässt sich Jürgen Trittin am besten als eine Art Wiedergänger des Habsburger Thronerben Joseph II. beschreiben, der als junger Mann mit der Politik seiner Mutter Maria Theresia haderte und sie dringend abzulösen wünschte, um seine aufklärerischen Fortschrittsideen unter die Leute zu bringen. Maria Theresia fürchtet damals, dass die Freiheit im aufgeklärten Jahrhundert die Religion ersetzt; Joseph hingegen will religiöse Toleranz gewähren, die Zensur lockern, Adelsprivilegien aufheben.





Einmal an der Macht freilich schlägt sein Fortschrittspathos in politische Zwangsbeglückung um: "Alles für das Volk, nichts durch das Volk" ist sein gutgemeint-gebieterisches Regierungsmotto. Joseph gründet Krankenhäuser und fördert die Geburtenrate, lässt nachts Straßen ausleuchten und die Häuser nummerieren, er führt den Stillzwang für Mütter ein und verbietet das Schnürmieder. Kurz, Josephs Untertanenerziehung besteht darin, seinem Volk den Fortschritt zu befehlen, bis es seine Gängelei zuletzt als Befreiung begrüßt. Tempolimit auf Autobahnen, Steuern auf Plastiktüten, die Abschaffung des Sitzenbleibens, fleischlose Kantinentage - die Themen haben sich geändert, das politische Pathos des Habsburger Thronerben aber ist der Welt als Jürgen Joseph Trittin erhalten geblieben.
Darüber kann und muss man sich lustig machen, klar, und dass die Junge Union am Veggi-Day vor der Parteizentrale der Grünen demonstrativ Koteletts auf den Grill wirft, ist eine sehr humorvolle Art der Politprovokation. Voltaire mochte vor 200 Jahren wohl noch davon träumen, dass mit dem Aberglauben auch der Fanatismus verwelkt. Heutzutage erbringen die Grünen beinahe täglich den Gegenbeweis, dass das Gefühl von Besserbescheidwisserei volksfürsorglichen Fanatismus düngt. Noch übler allerdings als die grünen Dressurversuche sind die trivialliberalen Invektiven, die gegen sie vorgebracht werden. Noch auf den kleinsten politischen Spatz, der rot-grüne Vorschläge zur Besserung der Lage daher zwitschert, schießt die schwarz-gelbe Generalität mit der Kanone der "Bevormundungsgefahr durch das blödnaive Gutmenschentum".