Tauchsieder

Das Ende des Populismus?

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Die Demokratie vor ihrer Krise schützen

Natürlich sind die Übergänge zwischen diesen vier Erklärungsmustern fließend: Der heimatverbundene Kohlekumpel etwa mag sich von Politikern und Energiemanagern in Davos nicht nur deshalb abwenden, weil die sich dort im Abglanz von Greta Thunberg sonnen (kulturelle Aversion), sondern auch, weil er seinen Arbeitsplatz womöglich ambitionierten Klimazielen opfern muss (materieller Grund). Aber selbst wenn man all diesen Erklärungsmustern einen idealtypische Plausibilität beimisst, um etwa den „Aufstieg“ der AfD in Deutschland zu erklären – scheitern sie nicht gerade an der Realität von Meinungsumfragen und Wahlen, in denen es die Rechtspopulisten nur noch auf maximal zehn Prozent bringen? Anders und zugespitzt gefragt: Was sind die Krisenbefunde unserer Politikwissenschaftler und Soziologen – jenseits ihrer Funktion als Beschäftigungsnachweis – wert? Würden die Hochschullehrer der Realität inzwischen nicht viel gerechter, wenn sie keine generalisierte „Krise der Demokratie“ ausriefen – etwa weil drei von vier Wählern in Deutschland auch nach zwölf Jahren voller Finanz-, Euro-, Migrations-, Integrations- und Coronakrisen Parteien der Mitte wählen (Union, Grüne, SPD, FDP)?

Kurzum: Womöglich sollte man gar nicht erst nicht versuchen, einer generalisierten „Krise der Demokratie“ (in den USA, in Polen, in Hongkong, in Russland, in Deutschland) phänomenal und soziologisch auf die Spur zu kommen, sie allenfalls umkreisen mit zeitlich und regional stark ausdifferenzierten Sets von Erklärungen, mit vieldimensionalen Landkarten, die für je eigene Zeiten und Länder Erklärungswege, -verweise, -verknüpfungen und -netze aufweist und auf internationale Verbindungen, Abkürzungen und Pfeile verzichtet. Statt dessen wäre womöglich viel mehr Zeit und Mühe darauf zu verwenden, auf der Basis einer Minimaldefinition von Demokratie (Volksvertretung, Wahlen, Machtwechsel, Opposition, Minderheitenschutz) ihre genuin politischen und institutionellen Defizite und Regressionen kenntlich zu machen, die ihre Krise in einigen Ländern begünstigt haben und in anderen Ländern begünstigen könnten.

Deutschlands schärfster Kapitalismuskritiker, Joseph Vogl, zeichnet in seinem Buch eine Spur der Zerstörung – von der Herrschaft der Finanzmärkte zur hegemonialen Macht der Plattformkonzerne. Klingt düster? Soll es auch.
von Dieter Schnaas

Der US-Publizist Ezra Klein hat das für die USA bereits mustergültig getan. Er deutet die Trump-Jahre (mit dem Politikwissenschaftler Larry Bartels) nicht als Anomalie der jüngeren US-Geschichte, sondern als Fortsetzungsgeschichte einer Polarisierung entlang politischer Identitäten, als Folge einer „negativen Parteibindung“, die sich vor allem auf Seiten der Republikaner seit 20 Jahren zugespitzt hat. Klein zufolge speist sich der Zuspruch für Donald Trump aus materiellen Abstiegs- und machtpositionalen Verlustängsten, vor allem aber aus der vergifteten Quelle einer politischen „Megaidentität“, die für die „andere Seite“ nurmehr Abscheu und kulturellen Ekel empfindet.

Genauer gesprochen: Klein zeichnet nach, wie multiple Identitäten (Nationalität, Religion, Geschlecht, sexuelle Vorlieben, Herkunftsregion, Essenvorlieben, Lieblingsclubs) in den USA zu zwei politischen Identitätsmonolithen verschmolzen – und wie beide Seiten „scheinbar unpolitische Identitätsmarker als Waffe“ einsetzen, um Gefolgschaft zu rekrutieren. Tatsächlich hat man sich inzwischen beinahe daran gewöhnt: Demokratische Spitzenpolitiker sprechen angewidert vom „White Trash“ der Fox-News-Rednecks, von ungebildeten, klerikalen, xenophoben „deplorables“ auf dem Land – und Republikaner verhöhnen die Multikultipermissivität veganer Caffé-Latte-Schneeflöckchen mit ihrem hypersensiblen Faible für Gendersternchen und viel zu lange „New-Yorker“-Reportagen.

Der Graben zwischen beiden Lagern ist inzwischen so tief, dass Klein auch der sozialreformerischen Hoffnung eine Absage erteilt, Information und Bildung könnten die Mauern der politischen Megaidentitäten wieder einreißen. Mit dem Interesse an Politik verschärfe sich bloß die Polarisierung, argumentiert Klein und stützt seine These mit zahlreichen Studien: Politisierte Menschen fragten nicht danach, was sie von der Politik hätten, sondern was ihr politisches Engagement über sie selbst aussage – mit der Folge stabilisierter Meta-Identitäten. Klein empfiehlt deshalb umfangreiche Renovierungsarbeiten an der amerikanischen Demokratie, etwa die Entpolitisierung (und Vergrößerung) des Supreme Courts, die Entkomplizierung des Wählens, die Abschaffung des Filibusters, die Demokratisierung der Präsidentschaftswahl (Abschaffung des Wahlmännerkollegiums) und eine stärkere Ausdifferenzierung des Senats je nach Bevölkerungsgröße der Bundesstaaten. Ansonsten, so seine Befürchtung, dürften die Republikaner mit Blick auf die demografischen Verschiebungen im Land (mehr Hispanics, mehr Schwarze) versucht sein, ihre immer schmaler werdende Machtbasis mit einer immer schärfer werdenden Rhetorik zu mobilisieren, um einer „bedrohten Minderheit“ mit Wahlkreisverschiebungen, Wahlbehinderungen und Wählermanipulationen dabei zu helfen, sich „ihr Land zurückzuholen“.

Bezogen auf Deutschland hieße das, sich in den nächsten Jahren womöglich weniger auf die „Krise der Demokratie“ zu kaprizieren, vielmehr die Demokratie vor ihrer Krise zu schützen. Auch hierzulande wird die nächste Kanzlerin oder der nächste Kanzler nicht um Renovierungsarbeiten herumkommen, um die Arbeitsfähigkeit, Repräsentativität und Effizienz der Demokratie zu stärken – etwa mit einer Wahlkreisreform und einer Verkleinerung des Bundestags und einer digitalbasierten Partizipation von Bürgern an der Arbeit eines Parlaments, das sich (wider Twitter und Facebook) als primäre Echokammer des politischen Diskurses versteht.

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Mit einer Neugestaltung des Föderalismus, womöglich mit Referenden, ganz sicher mit der Demokratisierung der Europawahlen und der EU-Institutionen und mit der Begrenzung der Amtszeit des Regierungschefs oder der Regierungschefin. Mit der Relegation quasisouveräner Aufgaben („Europäischer Stabilitätsmechanismus“ etc.) und exekutiver Machtanmaßung zurück in die Parlamente oder auch nur mit der Digitalisierung einer Verwaltung, die sich als Dienstleiter ihren Bürgern gegenüber erkenntlich zeigt. Gewiss: In einer Demokratie sind die Menschen jederzeit so frei, die Demokratie abzuschaffen. Aber warum sollten sie – wenn sie gut funktioniert?

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