Früher einmal, wohlgemerkt. Denn wenn Journalisten heute Rezo mit einem Faktencheck kommen, als sei er ein Widergänger Donald Trumps, dann ist das leider nichts weniger als verlogen: Sie umfloren sich mit dem Odium der Wahrheit – und denunzieren Youtuber als Produzenten „postfaktischer Politik“. Postfaktisch – damit ist ein politisches Denken, Sprechen und Handeln gemeint, das nicht auf Fakten und guten Gründen basiert, sondern auf vernunftfernen Gefühlen und Stimmungen, die auch unter Zuhilfenahme von Gerüchten und Falschheiten erzeugt, bearbeitet, angeheizt und ausgebeutet werden. Darum aber ist es Rezo erkennbar nicht zu tun. Und mehr noch: Blickten die Rezo-Rezensenten tatsächlich einmal „vernünftig“ auf das wirtschaftliche System, den Klimawandel, die soziale Ungleichheit oder die mangelnde Durchlässigkeit im Bildungssystem, müsste ihnen aufgehen, dass die Irrationalität in den vergangenen 36 Jahren oft ausgerechnet aufseiten der „ökonomischen Vernunft“ stand: Postfaktisch ist eine Wirtschaftsordnung, in der Geld aus dem Nichts geschöpft wird und kostenlos auszuleihen ist, in der systemrelevante Banken ohne Restrisiko agieren, Firmenzentralen die Größe eines Briefkastens haben und weite Teile der digitalisierten Finanzmärkte buchstäblich der Realwirtschaft entzogen sind. Fakt hingegen ist, dass in den westlichen Industrienationen die Ungleichheit zunimmt und Kapitaleinkommen höher rentieren als Arbeitseinkommen, dass Globalisierung, Automatisierung und Migration die Löhne, besonders von geringer Qualifizierten, drücken und dass die Mittelschichten erodieren.
Vielleicht sollte man vielen Unionspolitikern daher einmal raten, ein schmales Bändchen des Soziologen Bruno Latour zu lesen: Es könnte eine Brücke schlagen über die Verständniskluft zu den Jungen. Latour deutet in einem „terrestrischen Manifest“ anscheinend unterschiedliche Phänomene wie Populismus und Massenmigration, Kapitalmobilität („Offshoring“) und Steuervermeidung, die wachsende Ungleichheit in vielen Industrieländern und die Leugnung des Klimawandels alle gemeinsam als Realitäts-Flucht-Bewegungen von Entwurzelten. Der Unterschied bestehe allein darin, dass manchen das Privileg zuteil wird, offiziell erklären zu können, die Welt nicht mehr mit ihren Mitmenschen teilen zu wollen (die Superreichen, die Neo-Nationalisten, Donald Trump als Anführer der Leugner des menschengemachten Klimawandels) – während anderen buchstäblich der Boden unter den Füßen weggezogen wird (den Klimaopfern, den Kriegs- und Armutsflüchtlingen, den Dienstleistungsproletariern).
Die Eliten, so Latour, hätten bereits seit den Neunzigerjahren beschlossen, „sich schleunigst von der gesamten Last der Solidarität zu befreien (daher die Deregulierung); dass eine Art goldene Festung für jene Happy Few errichtet werden müsse, die in der Lage wären, sich aus der Affäre zu ziehen (daher die Explosion der Ungleichheiten); und dass der bodenlose Egoismus einer solchen Flucht aus der gemeinsamen Welt nur vertuscht werden konnte, indem sie die Ursache der verzweifelten Flucht schlichtweg negierten (daher die Leugnung des Klimawandels)“. Ihr Rückzug in „gated communities“ sei ein Akt der gewollten Weltabgewandtheit, der gesuchten Realitätsflucht und des absichtlichen Vernunftbetrugs. Und ihr Rückzug aus der Welt der Solidarität und der Fakten sei der Engstirnigkeit der Fake-News-Gläubigen, ihrem reaktionären Sinn fürs Völkische, Identitäre und Grenzwertige vorausgegangen.
Was, wenn man diese Zeilen ergänzte um den Gedanken, dass nach vielen AfD-Wählern sich nun auch viele junge Menschen von der großkoalitionären Regierungspolitik abwenden – aus ähnlichen Gründen, aber mit viel besseren, nämlich inklusiven, progressiven Absichten? Dann wäre es nicht nur „völlig nutzlos“, so Latour, sondern auch ein politisches Versagen, sich über die Empörten zu empören – weil sie faktisch in alternativen Welten leben. Das Problem wäre nicht, dass sie an intellektuellen Defiziten litten, sondern dass es im Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten (Elite und Volk) ein Defizit an gemeinsamer Praxis gibt. Für die CDU stellt sich die Lage daher eigentlich ganz einfach dar: Die Empörung über Rezo ist zwecklos, solange nicht nur die Empörten, sondern vor allem auch die CDU nicht wieder gewillt sind, auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren.