Tauchsieder
Luisa Neubauer und Robert Habeck mit geballter Faust Quelle: imago images

Die Fäuste von Lützerath

Die Aktivisten nerven mit ihren Posen des Widerstands, ihrer larmoyanten Selbstheroisierung, ihrem apokalyptischen Fieber – und erleichtern klimapolitischen Fossilien das Handwerk. Es ist ein Trauerspiel. Eine Kolumne.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

„Es ist alles so falsch“, sagt Luisa Neubauer. Wie recht sie hat. Deutschlands bekannteste Klimaaktivistin, von der Zeitschrift „Time“ vor ein paar Monaten zu den wichtigsten 100 aufstrebenden Persönlichkeiten der Welt gekürt, sieht deutsche Polizisten in Lützerath „mit Hundertschaften und Bulldozern über Demonstrant:Innen herfallen…, nachts…räumen, damit sie nicht schlafen können“. Und sie findet das „absolut unverständlich… gefährlich, provozierend, eskalierend“. Greta Thunberg, die Ikone der Klimabewegung, findet die Polizeigewalt wiederum „empörend“, die Räumung des Dorfes „schockierend“ und überhaupt: „Es ist entsetzlich zu sehen, was hier passiert.“ Die betont ungehorsamen Umweltschützer von „Extinction Rebellion“ sehen in dem kleinen Weiler sogar „gerade den Bruch unserer Menschenrechte staatlich vorbereitet“. Die Gewalt in Lützerath gehe eigentlich „von den Emissionen des Tagebaus“ aus, findet die Zeltstädterin Dina Hamid.

Die grüne Bundestagsabgeordnete Kathrin Henneberger wiederum veröffentlicht auf Twitter eine Mischung aus Emo-Tagebuch und Poesie-Album: „9:42 Das Klavier auf den Barrikaden auf Eckardts Hof in Lützerath wurde gerade geräumt. Es wurde bis zur letzten Minute gespielt… 12:06 Kettensägen sind überall im Dorf zu hören… 17:46 Die Fahrradwerkstatt wird zerstört, einer meiner Lieblingsorte“. Auf einer Schaukel neben ihr sitzt die Autorin und Podcasterin Katja Diehl und verabschiedet sich von der Linde, die sie trägt: „Bäume sind für mich magische Wesen, weil ich mir stets vorstelle, was sie erlebt haben… 1648 war Pflanzjahr. Erinnerung an den Frieden. So viele Abschiede grad“. Und dann ist da noch Timon Dzienus, der akkurat gescheitelte Sprecher der Grünen Jugend, hin– und hergerissen zwischen mobilisiertem Polizeistaatsekel, heftigen Rock-am-Ring-Vibes und der Selbstfaszination für einen echten Widerstandskämpfer: „Die Polizei ist auf dem ganzen Gelände, aber die Stimmung ist trotzdem gut: Es wird gesungen und gelacht – und trotz Regen, Wind und Kälte sind alle motiviert.“

Es ist alles so falsch, sagt Luisa Neubauer, findet Timon Dzienus. Wie recht sie haben. Beide winkeln einen Arm ab und recken die Faust in die Höhe als Signal der Solidarität, des Siegeswillens, des Widerstands: mit dem Klima, der Menschheit und der Weltgerechtigkeit, über die Ignoranz, die Blindheit und die Einsichtsschwäche der Mehrheitsgesellschaft, gegen die Kapitalistinnen und Konsumsklaven, Profitmaximierer und Politikerinnen. Und natürlich vor allem gegen Robert Habeck und die grüne Mitregierungspartei.

Lesen Sie auch: Wir brauchen mehr ökonomisches Denken in der Klimapolitik

Der grüne Wirtschaftsminister hat im Oktober 2022 mit der Düsseldorfer Landesregierung – konkret: mit der ebenfalls grünen NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur – einen von 2038 auf 2030 vorgezogenen Ausstieg aus der Kohleverstromung verhandelt und damit fünf Dörfer im Gebiet des Tagebaus Garzweiler II vor dem Abriss bewahrt. Im Gegenzug soll der Energiekonzern RWE in den nächsten sieben Jahren die Vorkommen unter dem bereits entwohnten Weiler Lützerath ausbeuten dürfen. Geht nicht anders, sagen Habeck und Neubaur. Der Abbau der Kohle unter Lützerath sei aus Gründen der Energiesicherheit und der potenziellen Stromknappheit infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und der Sanktionierung von Gas-, Öl- und Kohleimporten aus Russland alternativlos, sagt Neubaur. 

Was natürlich Unsinn ist. Denn selbstverständlich könnte Deutschland auch mit Wladimir Putin, dem Schlächter im Kreml, einen Separatfrieden schließen und wieder russisches Gas zur Verstromung importieren. Oder auch einige Kernkraftwerke weiterlaufen lassen, mehr Kohle auf dem Weltmarkt einkaufen, das Fracking forcieren oder besonders energieintensive Betriebe herunterfahren. Nur zum Beispiel. Auch gibt es sich widersprechende Studien; einigen zufolge wird die Kohle unter Lützerath nicht benötigt, um den schleunigen Komplettumstieg auf erneuerbare Energien bis 2030 problemlos zu schaffen. Man sieht: Es ist niemals alles falsch und nichts alternativlos. Politisch ist immer nur das eine oder andere aus besseren oder schlechteren Gründen mehr oder weniger geboten. Und auch das nur unter Vorbehalt. 

Habeck ist nicht Moses

Die Aktivisten haben insofern recht: Habeck ist nicht Moses. Nur weil der grüne Wirtschaftsminister einen Deal ausgehandelt hat, ist sein Ergebnis nicht schon Gesetz im Sinne eines Ewigen Gebots, also gleichsam in Stein gemeißelt. Eine Demokratie zeichnet sich im Gegensatz zu Autokratien durch ihre Fähigkeit zur einsichtsvollen Revision politischer (Fehl-)Entscheidungen im Lichte neuer Erkenntnisse aus. Aber natürlich auch dadurch, dass sie geltendes Recht nach der Erschöpfung aller Rechtsmittel zur Bestätigung der Rechtsordnung durchsetzt. Was ist daran so schwer zu verstehen? Und was daran, dass die Alternativen (Separatfrieden mit Putin, Kohle einkaufen, Kernkraft hochfahren, Gas fracken, Thyssenkrupp und BASF schließen) weder attraktiv noch mehrheitsfähig sind?

Um die Ausbauziele zu schaffen, entstehen immer mehr Solaranlagen auf Wiesen und Feldern – und neue Konflikte zwischen Energie, Naturschutz und Ernährung. Dabei lässt sich der Widerspruch auflösen.
von Konrad Fischer

Das Problem der Öko-Aktivisten ist, dass sie nie bessere Lösungen anstreben, sondern permanent ultimative Forderungen erheben. Dass sie ihre Minderheitsvoten verabsolutieren. Dass sie deshalb mit ihren Protesten vor allem die Reihen der politischen Gegner schließen. Dass sie den Grünen als ihren partei-parlamentarisch organisierten Mitstreitern politische Erfolge verübeln. Und dass sie insbesondere Habeck wegen seiner Ambivalenzfähigkeit und Ambiguitätstoleranz als windigen Opportunisten und korrumpierten Verräter dissen, statt ihn genuin politisch zu kritisieren.

Es hätte den Aktivisten etwa freigestanden, sich in der akuten Knappheitskrise mit erhobener Faust gegen Habeck und hinter Greta Thunbergs Vorschlag zu versammeln, der Kernkraft gegenüber der Kohle den Vorzug zu geben: Wenn Klimaschutz die Meta- und Mega-Aufgabe unserer Zeit ist, kann „das Ende der Kernkraft“ schon rein logisch kein energiepolitisches Primärziel mehr sein, im Gegenteil: Ihre temporäre Nutzung empfiehlt sich dann gegenüber der Braunkohle zwingend als das bessere Mittel im Dienste des übergeordneten Zwecks. 

Was also, wenn Habeck sich tatsächlich noch als Verräter erwiese und sich, beeindruckt vom Protest und auf der Basis neuer Studien entschiede, Lützerath zu schonen und etwa Neckerwestheim wieder hochzufahren? Es gehört kaum Fantasie dazu, um sich vorzustellen, dass die Karawane des institutionalisierten Maximalprotests dann (ohne Greta Thunberg) wohl nach Baden-Württemberg umzöge, ins Land des grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann: Auch er, wie Habeck, aus Sicht vieler Aktivisten, ein machteitler Pragmatist, der sich auf das Schließen faustischer Pakte mit Konzernen und ihren Profitinteressen versteht – auf Verträge mit dem Leibhaftigen, dem vormals gesinnungsfeste Spitzengrüne zugunsten von Machtfülle und Karriereerfolgen ihre Seele überschreiben.

Lesen Sie auch: Warum ist der Weg zur Hölle mit guten Klima-Absichten gepflastert?

Was natürlich abermals Unsinn ist. Denn Habeck hat recht: „Lützerath“ ist das „falsche Symbol“ der Klimaaktivisten, weil es „nicht das Weiter-so“, sondern im Gegenteil „das Ende der Braunkohleverstromung in NRW“ markiert. Und die Argumentation der Klimabewegten, Deutschland benötige die Kohle unter Lützerath womöglich nicht, es brauche auch gar keine Enddaten mehr, weil die Kohleverstromung sich schon früher als 2030 nicht mehr lohne, die CO2-Preise rasant stiegen und der Zertifikatehandel dafür sorge, dass die Verfeuerung sich in den Bereich des Unrentablen hinein verteuere – diese Argumentation ist ja vor allem eine flagrante Bestätigung der regierungspraktischen Klimapolitik: Auch Habeck hätte sicher nichts dagegen, wenn die Schaufelräder unter Lützerath schon 2028 ihren Dienst einstellten. 

Worum also geht es den Aktivisten in Lützerath? Um einen möglichst schnellen CO2-Ausstieg? Oder doch nur um eine Bühne für Posen des Widerstands und larmoyante Selbstheroisierung? Um eine medial grell ausgeleuchtete Feier des apokalyptischen Fiebers, der Alternativkultur und tief empfundenen Lebensgefühle? Um theatralische Gesten und Provokationen, die erkennbar dem Ziel dienen, Vorurteile über politindustrielle Komplexe („Deal mit RWE“) und polizeistaatliche Gewalt zu stabilisieren? 

Showdown in Lützerath: Alles so falsch

Es ist alles so falsch, sagt Luisa Neubauer. Wie recht sie hat. Die Gewalt und die Selbstgefährdung einiger Demonstranten sind falsch. Die tagelange Beschäftigung vieler Hundert Polizisten. Der bürokratisch terminierte Showdown in Lützerath. Das ritualisierte Wegtragenlassen. Einen entwohnten Weiler „retten“. Die Konzerne, den Kapitalismus und die Polizei beschimpfen. In Deutschland den Schlüssel zur Lösung der Klimafrage sehen. Die Grünen schwächen, um die Energiewende zu beschleunigen. Es ist alles so falsch.

Und es ist vor allem falsch, dabei jegliche Gelingensfreude vermissen zu lassen – jeden Sinn dafür, dass wir der (fossilen) Wachstumskrise paradoxerweise nur durch eine Potenzierung des (grünen) Wachstums werden entkommen können – und dass es dafür in den nächsten Jahrzehnten vor allem maximal entfesselten Kapitals, grenzenlos geteiltes Ingenieurwissen und einer schier ungebremsten Lust auf „Fortschritt durch Technik“ bedarf.

Diese Gelingensfreude ist einerseits politisch geboten, weil eine schleunige Energiewende für die Friedrich Merz, Markus Söders oder auch Christian Lindners dieser Welt noch immer keine Herzenssache ist: Die notorischen Ideologievorwürfe aus den Reihen von Union und FDP an die Adresse der Grünen sind ihrerseits vor allem ideologischer Natur: Man möchte die Grünen mit ihren multiplen Ausstiegen (Kernkraft, Kohle, Gas, Öl) vor allem scheitern sehen – und allzu oft geht es im Gewand der „wirtschaftlichen Vernunft“ nicht darum, pragmatische Übergangslösungen zu finden, sondern fragwürdige Technologien dauerhaft zu konservieren (Kernkraft, Fracking) – oder auch darum, sich mit der Promotion von Technologien des Übermorgens (absurd energieintensive E-Fuels statt Forcierung des Elektroautos) als besonders innovativ denkender Fortschrittsfreund imaginieren zu können.

Klimaschutz: Elon Musk wird genauso wichtig gewesen sein wie Greta Thunberg

Vor allem aber ist diese Gelingensfreude auch sachlich geboten: In Jahr 2100 wird man sich daran erinnern, dass Elon Musk sich für den geglückten Klimaschutz als mindestens genauso wichtig erwiesen hatte wie Greta Thunberg. Geglückter Klimaschutz? Ja, warum eigentlich nicht? Alles, was es dazu braucht, sind „ein höheres Innovationstempo und steigende Investitionen in den Umbau des Energiesystems, des Produktionsapparats und der öffentlichen Infrastruktur“, schreibt Ralf Fücks, der Chef des Berliner ThinkTanks Zentrum Liberale Moderne in einem aktuellen Essay für die WirtschaftsWoche: „Daraus kann eine neue ökonomische Dynamik entstehen, eine lange Welle umweltfreundlichen Wachstums. Ihre Treiber sind Künstliche Intelligenz und die kybernetische Steuerung von Produktion und Logistik, Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe, E-Mobilität und Batterietechnik, nachwachsende Werkstoffe, Bionik und das weite Feld der Biotechnologie mit ertragreicheren, robusteren Nutzpflanzen und Lebensmitteln aus Zellkulturen.“

Anders gesagt: Lützerath vergessen. Schnell. Und der grünen Zukunft entgegenstürzen. Mit Ideen. Mit Wachstum. Mit Kapital. Mit der Kraft des Marktes. Und der Macht der Konzerne. Was wäre daran falsch?

„Es gibt kein Zurück hinter die industrielle Moderne, sondern nur den Weg nach vorn zu einer neuen Synthese zwischen Natur und Technik“, schreibt Fücks und: „Für ein fortschrittsmüdes, zukunftsängstliches Schrumpfeuropa interessiert sich kein Mensch.“ Recht hat er. Also los.

Lesen Sie auch: Wer das Klima schützen will, sollte nicht in Lützerath protestieren

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%