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Die Füllhorn-Politik der Schuldenfreunde

Ökologische Bestandssicherung sticht finanzielle Nachhaltigkeit? Es ist fast schon komisch, dass ausgerechnet die Linke die ökonomischen Risiken der Staatsverschuldung – Wachstumszwang, Inflation und Vermögenskonzentration – konsequent ausblendet.

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Vergangene Woche zirkulierte ein höchst aufschlussreiches Lehrvideo in den Sozialen Medien, ein Ausschnitt aus dem Film „Oeconomia“, der einmal mehr belegt, was alle wissen: Alle Welt dreht sich ums Geld – auch wenn heute weniger denn je geklärt ist, was es mit ihm auf sich hat. Tatsächlich ist unser modernes Geld ja vor allem eine Mystifikation: die substanzlose Erscheinungsform eines Wertes, kein Wert in sich: ein papierner (oder auch elektronischer) Anspruch auf ein Gut, das seinen „Wert“ allein durch den Reichtum erhält, auf den es Anweisung ist.

Also fragt die Filmemacherin Carmen Losmann den Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank (EZB), wie das Geld in die Welt kommt. Und Peter Praet hebt eloquent an: Es gibt zwei voneinander unabhängige Quellen der Geldproduktion. Die Zentralbanken bringen Bargeld in Umlauf. Und die Geschäftsbanken Buchgeld, ein Hybrid aus Geld und Schuld. Und solange die Wirtschaft rund läuft, sagt Praet, haben die Notenbanken auch nichts zu tun mit der Kreditvergabe der Geschäftsbanken, zum Beispiel für neue Geschäfte, Investitionen oder Häuser: Die Geschäftsbanken entscheiden nach kommerziellen Kriterien, „auf der Grundlage unserer Marktwirtschaft“, ob sie einen Kredit vergeben oder nicht, ganz „unabhängig von der Zentralbank.“

So weit, so gut. Doch dann soll Praet erklären, warum die Notenbanken denn bitteschön seit der Finanzkrise so viel Geld in die Märkte pumpen. Und er erläutert, dass die private Geldproduktion in der Krise nicht mehr gut funktioniert hat. Die Geschäftsbanken kämpften mit hohen Kreditausfällen und wirtschafteten nicht mehr profitabel, erklärt er, also senkten die Notenbanken zunächst die Zinsen, um den Konsum anzukurbeln, und weil das nicht reichte, kauften sie alsbald auch Vermögenswerte: „Denn wir haben die unglaubliche Macht, Geld zu schöpfen.“ Der Mechanismus, so Praet, sei einfach: Die Zentralbank kauft Anleihen (von Staaten oder Unternehmen) und produziert das fehlende Geld, um klamme Banken und Staaten „mit Liquidität, mit Zentralbankgeld, mit Cash“ zu versorgen.



Und jetzt kommt’s: Als Praet erklären soll, wie die Zentralbank – plötzlich singulärer Urquell des Geldes, gleichsam als „lender of last resort„ – dieses Geld produziert, gerät er auf denkbar sympathische Weise ins Schlingern: „Das ist sehr einfach… Wir schaffen Geld, auf elektronische Weise… Wir schreiben es Konten gut… Aber das werden die Leute jetzt wieder nicht verstehen… Also wir drucken Geld… Bildlich gesprochen…  Wie kann man das erklären… (Ein Mitarbeiter versucht zu helfen): Wir verleihen Geld an Geschäftsbanken, und schaffen es auf diese Weise… Nein, ich weiß, was Sie meinen, aber das stimmt auch sachlich nicht… So wird das niemand verstehen…Wir schaffen Geld… Normalerweise… Also stellen Sie sich vor, ich drucke Geld, ich sitze im Büro und drucke Geld… Geld, mit dem ich Ihnen etwas abkaufe… Ich gebe Ihnen das Geld und Sie geben mir dafür eine Anleihe, die Sie zuvor erworben haben…“

Vielleicht hätte Praet besser einfach auf eine zentrale Spielregel von „Monopoly“ hinweisen sollen: „Die Bank geht niemals bankrott“, heißt es da, und: „Der Bankhalter kann zusätzliches Geld herstellen, indem er die Werte auf kleine Zettel schreibt.“ Die Zentralbanken sind daher heute so etwas wie die Spinnen im Netz des Geldkapitalismus, zumal sie inzwischen nicht mehr nur Geschäftsbanken und Staaten mit Geld versorgen, darauf hat Praet vergessen hinzuweisen, sondern auch Schattenbanken (Investmentfonds, Geldmarktfonds, Hedgefonds, Vermögensverwalter), die jedes Jahr Wertpapiere von mehr als 200 Billionen Dollar umsetzen, also etwa die Hälfte aller weltweit gehandelten Wertpapiere.

Anders gesagt: Das heutige Finanzsystem läuft seit der Krise 2008 darauf hinaus, dass die Zentralbanken privaten Finanzakteuren so lange den Rücken freihalten, um die Nachfrage und das Angebot von Wertpapieren und Krediten optimal zu koordinieren, bis die nächste Krise kommt. Es geht darum, die funktionale Effizienz der Finanzmärkte (zugunsten ihrer Akteure und Profiteure) exakt so lange auszureizen, bis eine weitere geldpolitische Intervention fällig ist. „Die Zentralbanken stützen mit aller Macht ein krisenhaftes Laissez-faire-System“, schreibt der Politikwissenschaftler Joscha Wullweber: „Es ist ein Laissez-faire on life support, das künstlich am Laufen gehalten wird.“

Bis zur Finanzkrise gab es bei diesem Monopoly, so wie Praet es andeutet, tatsächlich noch ein Nebeneinander und Nacheinander: Die Hochseilartisten in den Hedgefonds und Geschäftsbanken koordinierten ihre Kredite, Besicherungen und Verbriefungen nach dem marktliberalen Ideal – noch ohne von einem Sicherheitsnetz der Zentralbanken zu wissen. Dagegen haben wir es heute mit einem zeitlichen und systemischen Ineinander zu tun: Eine technologisch unterstützte Artistik beim Jonglieren mit Risiken wird von den Finanzmärkten (zugunsten ihrer Akteure und Profiteure) mit prozyklisch wirkender Wucht in der Hausse so lange auf die Spitze getrieben, bis zuletzt die Grenzen von Risikoabsicherung und Risikoproduktion verwischt sind – und der Systemabsturz im Krisenfall nur deshalb folgenlos bleibt, weil das Sicherheitsnetz der Zentralbanken immer schon aufgespannt ist.

Zu den schönsten Ironien dieses „Zentralbankkapitalismus“ gehört, dass sich die politische Linke ihm neuerdings verschrieben hat, natürlich nur aus den nobelsten Gründen, etwa um das Klima zu retten. Zur Erinnerung: Die Linke  fürchtete vor gut zehn Jahren noch sehr zu Recht sich selbst überlassende Märkte, die sich zugunsten des Wallstreet-Casinos von Staaten entkoppeln. Und sie geißelte sehr zu Recht die Macht der Finanzmärkte und anderer nicht-majoritärer Institutionen über demokratisch legitimierte Parlamente.

Heute indes haben sich die Staaten von den Märkten entkoppelt. Und es kann einem angst und bange werden, Politikern dabei zuzusehen, wie sie mit der Staatsverschuldung jonglieren, wie sie Risiken bündeln und stückeln und verstecken – ganz so wie einst die Banker ihre „strukturierten Kreditprodukte“ gebündelt, gestückelt und versteckt haben. Welchen Finanzminister juckt heute noch, knapp zehn Jahre nach Mario Draghis „Whatever it takes“, die Bewertung einer Ratingagentur? Welches Land hat heute trotz Schwindel erregender Schuldenquoten (Griechenland 207 Prozent des BIP, Italien 156 Prozent, Portugal 135, Spanien 123 und Frankreich 115) die „Disziplinarmacht der Finanzmärkte“ zu fürchten, der sich noch Finanzminister Wolfgang Schäuble meinte unterwerfen zu müssen (und zu wollen)?

Tatsächlich tickt die politische und ökonomische Welt tickt heute radikal anders als noch vor wenigen Jahren, ja: Monaten. Was wir heute sparen, kommt uns morgen umso teurer zu stehen, ist die Losung der Stunde: ökologische Bestandssicherung sticht finanzielle Nachhaltigkeit. „Wir leben auf Kosten unserer Enkel und Urenkel“, sagte SPD-Chef Sigmar Gabriel 2011; er hatte damals nicht das Klima, sondern die Staatsverschuldung im Sinn. Das „Wachstum auf Pump“ muss ein Ende haben, befand Kanzlerin Angela Merkel 2012. „Das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts darf nicht gefährdet werden“, warnte Finanzminister Wolfgang Schäuble 2014. Und noch 2021 meinte Nachfolger Olaf Scholz: Deutschland kann sich den Corona-Wumms nur leisten, „weil wir vor der Krise lange ordentlich gewirtschaftet haben“.



Und heute? Herrscht in der Politik und unter vielen Ökonomen die Meinung vor, auch alle hoch verschuldeten Länder Europas könnten sich noch viel mehr leisten, solange die Zinsen niedrig sind und der „Purpose“ stimmt: Her mit den neuen Schulden! Es ist ein volkswirtschaftliches Vabanquespiel. Und noch einmal: Es ist fast schon komisch, dass ausgerechnet die kapitalismuskritische Linke für die Risiken und Nebenwirkungen kein Gespür entwickelt. Niedrige Zinsen verteilen Milliarden von unten nach oben um. Schulden verschärfen den Wachstumszwang. Und eine Inflation entlastet den Staat auf Kosten des „kleinen Mannes“. Und schon gar nicht ist es realistisch anzunehmen, dass die Zinsen dauernd niedrig bleiben. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) warnt in seinem Jahresgutachten bereits vor steigenden Realzinsen: Sie könnten mittelfristig „insbesondere die Staaten in Schwierigkeiten bringen, deren Schulden hoch und deren Wachstumsaussichten niedrig sind“.

Viele Politiker und Makroökonomen, allen voran Jens Südekum, der inoffizielle Chefökonom der neuen Ampelfreunde, beruhigen: Gute Schulden, verstanden als investiertes Geld, sind an sich kein Problem, sie sind, mit Schumpeter gesprochen, eine Investition, also ein Vorgriff auf künftige Erträge, aber natürlich! Und selbst wenn die Zinsen stiegen, bliebe Staaten (und Notenbanken) angesichts der langen und gestaffelten Laufzeiten der Kreditvereinbarungen genügend Zeit, um zu reagieren und die nötigen Anpassungen vorzunehmen. Sie halten es angesichts von Investitionsstau und Klimakrise mit US-Präsident Joe Biden, der  nach seiner Amtseinführung im Februar 2021 sagte: „Das größte Risiko ist nicht, zu viel Geld in die Hand zu nehmen – es ist, zu wenig Geld in die Hand zu nehmen.“ Das leuchtet ein mit Blick auf all“ die Straßen, Schulen, Brücken und Netze, die gebaut werden müssen, mit Blick auf die Digitalisierung des Kontinents und den Aufbau einer „klimaneutralen Wirtschaft“. Das leuchtet ein mit Blick auf die gesunkene Zinslast des Bundes, die von 14,2 Prozent der Gesamtausgaben (2008) auf 1,9 Prozent (2020) gesunken ist. Und das leuchtet erst recht ein, wenn man die niedrigen Zinsen und die Dringlichkeit der Klimakrise zusammen denkt - als eine einmalige Chance begreift, die man entweder entschlossen nutzen oder verpassen kann.

Michael Burda zum Beispiel, seit 1993 Professor für Volkswirtschaftslehre und Direktor am Institut für Wirtschaftstheorie an der Humboldt-Universität in Berlin, ist zutiefst überzeugt davon, dass die Preise von Gütern und Dienstleistungen, die den Klimawandel beschleunigen, jetzt ganz rasch anziehen müssen. Dass „eine reine private Marktwirtschaft das Problem“ nicht lösen kann. Dass auch „staatliche Interventionen“ unbedingt nötig sind. Und dass es angesichts der Dimension dessen, was schnell getan werden müsse, jetzt grundfalsch wäre, zu sparen. Allerdings nennt auch er die zwei entscheidenden Bedingungen für eine grünliberale Fiskal- und Geldpolitik: Europa muss schnell wachsen. Und die EZB schleunigst einen Weg aus der Nullzinsfalle finden. „Sonst“, sagt Burda, „wird es nichts.“

Zumal mindestens drei weitere Risiken und Besonderheiten zu bedenken sind. Erstens: Die Wachstumserwartungen, die sich mit den in Rede stehenden Ausgabenprogrammen und Kreditsummen verbinden, sind nicht kühn, sondern tollkühn. Die Situation ist nicht mit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichbar, als viele Volkswirtschaften leicht aus ihren Schulden herauswuchsen, der Wohlstand mit der Wirtschaft zweistellig wuchs: Wer bitteschön glaubt heute ernsthaft an die Wiederauflage eines dreißigjährigen „Wirtschaftswunders“, an klimaneutrale „Trente Glorieuses“, an ein grünes „miracolo economico“?

Zweitens: Was, wenn die Inflation gekommen wäre, um zu bleiben? Was, wenn nach den Preisen auch die Löhne stiegen – wer wollte Gewerkschaften und Betriebsräten entsprechende Forderungen verdenken? Und was, wenn die Erwartung steigender Preise abermals die Preise triebe? Wenn viele Länder in Schwierigkeiten gerieten, ihre Schulden zu bedienen und sich zugleich soziale Probleme und Verteilungskämpfe verschärften?

Drittens: Wir haben es hier ausdrücklich nicht mit einem keynesianischen Konjunkturprogramm zu tun, ja: Es wäre geradezu absurd, die in Rede stehenden Infrastruktur- und Klimabillionen mit dem Hinweis auf den Verfasser der „Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ (1936) zu begründen. Die Wirtschaft hat sich nach dem Coronaschock gut erholt - und nach Keynes“ Lehrbuch wäre der Staat jetzt geradezu herausgefordert, seine Aktivitäten wieder zurückzufahren.

Die meisten Wirtschaftsforscher prognostizieren ein Wachstum von knapp fünf Prozent im nächsten Jahr (Achtung, Inflationsrisiko!), die Staatskassen laufen voll (sagen die Steuerschätzer), kurz: Wir haben überhaupt keine Geldsorgen und kein Nachfrageproblem, sondern vor allem mit Kapazitätsmängeln, Überlastungen und  Angebotsproblemen zu kämpfen, konkret: Wir wollen Brücken, Straßen und Schienenwege bauen, das Land mit E-Ladenetzen überziehen, Schulen und Ämter digitalisieren, Windräder, Solarparks und Strommasten aufstellen, und das alles möglichst schnell und gleichzeitig-

Allein die Frage ist: Wer soll das alles schaffen? Wo sind die Handwerksbetriebe, die das alles europaweit erledigen? Schon heute werden viele bereit gestellte Milliarden nicht abgerufen. Und die demografische Lage spitzt sich zumal in Deutschland zu, weil die Baby-Boomer sich langsam in Richtung Ruhestand verabschieden.

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„Ich sitze im Büro und drucke Geld…“, sagt Peter Praet. Schön und gut. Aber was, wenn es den meisten kurzfristig nichts nützt – und am langen Ende allen schadet?

Mehr zum Thema: Finanzkrise, Coronakrise, Klimakrise: Alles kein Problem mehr, oder? Zumindest nicht finanziell, so scheint es. Die Politik will keinen Geldmangel mehr kennen. Immer neue Schulden sollen die Zukunft begrünen. Ein ökonomisches Vabanquespiel.

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