Tauchsieder
Quelle: imago images

Die Grenzen der AfD

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer und die anderen Wahlkämpfer haben vorgemacht, wie es geht: Verständnis zeigen für frustrierte Wähler – und klare Kante gegen eine rechtsradikale Partei. Das zahlt sich aus.

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Es hätte schlimmer kommen können, werden viele sagen. Und manche Gesichter bei der AfD werden am Wahlabend in Sachsen und Brandenburg ziemlich lang sein, trotz der Zugewinne. Und warum? Nun, der Hass ist, wie die Liebe, eine Leidenschaft und ihre Nachtseite zugleich: schwarze Lust, dunkle Passion, heißkalter Rausch. Aber der Hass kennt, anders als die Liebe, keine Aggregatzustände bei milderen Temperaturen, keine alternativen An-Triebe zu Feuer und Eifer. Das heißt: er lässt sich nicht verstetigen und auf Dauer stellen, muss ständig beheizt und betankt, genährt und gefüttert werden, will er sich seine Kraft erhalten.

Meistens tut er es nicht. Und nach vier Jahren des Intensivhasses auf Kanzlerin Angela Merkel und die Regierenden in Berlin hat sich der Hass der Hassenden verausgabt. Vier von fünf Deutschen wollen sich nicht einmal ansatzweise von ihm vereinnahmen lassen. Auch nicht in Sachsen und Brandenburg.

Gewiss: Anders als die Liebe lässt sich Hass verallgemeinern und kollektivieren, er begegnet uns dann als Ressentiment, als „seelische Selbstvergiftung“, so hat Max Scheler es mal definiert, als „dauernde psychische Einstellung, die durch systematisch geübte Zurückdrängung von Entladungen“ entsteht; als verzeitlichter Groll und zurückgestellte Rache, als stete Scheelsucht und permanentes Ohnmachtsgefühl, als „Negativismus gegen jede positive Lebens- und Kulturgestaltung“. Die AfD hat dieses Ressentiment glänzend ausgebeutet, so scheint es – und Phänomene der „herrschenden Wertordnung“ verschlagwortet, um mit einem Vokabular der konkreten Provokation die „herrschende Wertordnung“ selbst in Zweifel zu ziehen: mit dem „linksgrünen Mainstream“ den Pluralismus und mit der „Lügenpresse“ die Meinungsfreiheit, mit den „Kopftuchmädchen“ das Einwanderungsland und mit dem „Fliegenschiss“ die Erinnerungskultur. Das war kurzfristig teilerfolgreich. Und erweist sich doch mittelfristig als Fehler: Die Mehrheit der Deutschen will ihr Leben positiv gestalten und schätzt die Bedingungen, die sie in Deutschland vorfindet. Schätzt Soziale Marktwirtschaft und freie Medien, Weltoffenheit und Geschichtsbewusstsein. Auch in Sachsen und Brandenburg.

Über die Gründe für den Wahlerfolg autoritärer Nationalisten in Ostdeutschland und über die erodierende Akzeptanz der traditionellen Westparteien ist in den vergangenen Jahren unendlich viel geschrieben worden. Es sei kein Zufall, dass sich ausgerechnet in Sachsen eine antiwestliche Bewegung formiert habe, hat der Historiker Heinrich August Winkler mal argumentiert. Im „Tal der Ahnungslosen“, jahrzehntelang abgeschnitten vom Westfernsehen, lasse sich besonders leicht an die Vorbehalte der Deutschen gegenüber der westlichen Demokratie zu Beginn des 20. Jahrhunderts anknüpfen, dem Pluralismus der westlichen Zivilisation die Verherrlichung eines starken Staates entgegenhalten. Sein Branchenkollege Sascha Kowalczuk meint, viele Menschen in Ostdeutschland hätten nach dem Mauerfall nicht nur ihre Arbeit, sondern auch ihren sozialen und kulturellen Status verloren – hätten Schwierigkeiten, ihre Umbruch-Erfahrung als Element der bereichernden Selbstanerkennung zu verstehen.

Die Soziologin Cornelia Koppetsch dekonstruiert in ihrer herausragenden Analyse „Die Gesellschaft des Zorns“ zwei weitere Thesen. Zum einen die, dass vor allem ökonomische Globalisierungsverlierer rechts wählten (Koppetsch: „Rund ein Drittel der AfD-Sympathisierenden gehört zum reichsten Fünftel der Bevölkerung.“) Und zum anderen die, wonach die AfD primär als weltanschauliche Partei punkte, als „kulturelle Backlash-Bewegung“, die eine Umkehrung des Wertewandels verspreche (Koppetsch: „Eine alleinige und eindeutige Spaltung politischer Präferenzen entlang von Bildungsunterschieden und Regionen ist nicht feststellbar.“)

Stattdessen versteht Koppetsch, ähnlich wie auch der Psychologe Carlo Strenger in seinem scharfen, pointierten Essay („Diese verdammten liberalen Eliten“) die AfD und andere Rechtsparteien vor allem als Querfront gegen die „Transnationalisierung des Sozialraums“: Sie stifteten ein Bündnis zwischen den bürgerlichen Gegnern der Globalisierung und den zurückfallenden Fraktionen der traditionellen Mittelschicht – und machten Stimmung gegen die „Anywheres“ einer international-liberalen Elite, die buchstäblich keiner Bodenhaftung mehr bedarf, weder kulturell noch politisch. Eine Elite, die nicht verstehen kann, dass sie für die Lösung großer Menschheitsprobleme nicht auch noch gelobt wird von den immobilen „Somewheres“, die sich um ihre Arbeitsplätze sorgen und den Zerfall von traditionellen Werten, von „nationalen“ Kulturen und Bildungsgütern.

Für Ökonomen wiederum stellt sich die Sache wie folgt dar: Nach der Wende entstanden Industriearbeitsplätze im Osten, wenn überhaupt, in Form verlängerter Werkbänke der Dax-Konzerne. Die Gewerkschaften, die IG Metall vor allem, forderten eine schnelle Angleichung der Löhne, trotz der großen Produktivitätsunterschiede. Viele Unternehmen antworteten mit Tarifflucht, bauten auf Lohnkostenvorteile, zum Schaden der Produktivität und Innovationskraft – ein Teufelskreis. Die Folgen: Laut einer Studie der Universität Leipzig stammen nur drei von 190 deutschen Dax-Vorständen aus Ostdeutschland, wird nur jedes vierte Unternehmen im Osten von einem Ostdeutschen geführt. 27,5 Prozent der Vollzeitbeschäftigten im Osten verdienen nach Angaben des Bundessozialministeriums weniger als 2000 Euro.



Und kein Bundesland im Osten, nicht einmal Sachsen, erreicht die Produktivität des schwächsten westdeutschen Bundeslandes, des Saarlands, zeigt eine Studie des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). Und der Rückstand droht zu wachsen. Der Fachkräftemangel trifft den Osten besonders hart, weil die Jungen, die Mobilen und die Frauen ihm nach der Wende den Rücken gekehrt haben. Und weil oft die zurückblieben, die nicht mobil waren und flexibel, nicht gut ausgebildet und aufstiegsorientiert – die trotz aller materiellen Zuwendungen Enttäuschten.

Demoskopen wiederum wissen: An den Orten mit der größten Abwanderung ist der Zuspruch für die AfD besonders groß. So wie umgekehrt gilt, dass an den Orten mit der größten Zuwanderung vor allem die Grünen punkten können. Zugespitzt heißt das: In schrumpfenden Dörfern voller alter Menschen ist die AfD stark. Also etwa in Brandenburg jenseits des Speckgürtels um Berlin, wo mehr als jeder vierte Einwohner älter ist als 65. Wo das Ressentiment gern im Gestern nistet und sich im enttäuschten Blick zurück aushärtet, wo es sich gegen das Fremde verfeindet oder „die Idee des Guten selbst entrechtet“, schreibt Scheler.

Oder wo es sich auch nur gegen eine Realität verweigert, die jenseits der Dorfgrenzen ziemlich hell und heiter ist: Die Arbeitslosenquote in Sachsen liegt bei gerade einmal 5,3 Prozent (Brandenburg: 5,6 Prozent), die Infrastruktur ist prima ausgebaut, die Mieten sind niedrig, die herrlichen Landschaften an Wochenenden voll mit segelnden, radelnden, wandernden Nahtouristen – und so fragt man sich manchmal wirklich, bei allem Groll auf die Berliner Nichtregierungspolitik, auf transnationale Luftwurzelwesen und die Geldherrschaft an sich: Man muss den (Selbst-)Hass schon sehr lieben in Ostdeutschland.



Michael Kretschmer, der Ministerpräsident von Sachsen, hat sich damit nicht abgefunden und sein Land seit zwei Jahren intensiv bereist. Auch die übrigen Politiker in Sachsen und Brandenburg sind viel unterwegs gewesen, haben in zahllosen Bürgergesprächen zugehört, erklärt, Kritik eingesteckt und dabei stets klare Kante gegen rechts (und rechte Äußerungen) gezeigt – man kann auch sagen: den ein oder anderen erlöst aus seinem Ressentiment-Kerker. Sie alle haben Sachsen und Brandenburger für sich einnehmen können, weil sie wussten und vermittelten: Nicht jeder, der AfD wählt, ist rechtsradikal. Wohl aber wählt jeder, der AfD wählt, eine rechtsradikale Partei.

Gut so. Weiter so. Und jetzt noch die Wahlergebnisse anders lesen, die Perspektive umdrehen, die Kirche buchstäblich im Dorf lassen: Mindestens drei von vier Sachsen und Brandenburgern wählen nicht mit Blick in den Rückspiegel. Sondern mit dem Blick nach vorn.

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