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Tauchsieder

Die Grenzen des TV-Duells

Mit dem TV-Duell erreicht der Rückzug der Politik auf ein niedriges argumentatives Anspruchsniveau seinen vorläufigen Höhepunkt. Wie banal darf Wahlkampf sein?

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Wen soll man nun wählen? Nach dem TV-Duell und dem Wahl-O-Mat bleibt der Wähler genau sio desinformiert wie vorher Quelle: dpa

Darf man noch einmal daran erinnern, dass die Bundesrepublik Deutschland sich als Parteiendemokratie auszeichnet, in der die Bürger unter der Bedingung des Verhältniswahlrechts zur Urne schreiten? Dass wir hierzulande keinen Präsidenten wählen, der mindestens eine Stimme mehr einwirbt als sein Konkurrent, sondern die Wahlliste einer Partei, die wir um ihrer politischen Ziele willen im Deutschen Bundestag repräsentiert wissen wollen - und zwar so stark, dass diese Partei koalitionsfähig ist, um aus der Mitte einer Mehrheit von Abgeordneten den Regierungschef zu wählen? Oder anders gefragt: Darf man noch einmal daran erinnern, dass das so genannte "TV-Duell" zwischen den Spitzenkandidaten von zwei Parteien, deren Listen Meinungsforscher derzeit eine besonders hohe Anziehungskraft zutrauen (CDU und SPD), allein aus diesem Grund eine einzige Frechheit ist?

Aufgrund der bloßen Annahme, dass 65 Prozent der Bürger am 22. September ihr Kreuz entweder bei der Union oder bei der SPD machen, bekommen die beiden Platzhirsche vom öffentlich-rechtlichen Rundfunkt (die mit dem politischen Bildungsauftrag!) noch einmal eine mediale Vitaminspritze - auf Kosten der Konkurrenz. Im Sport nennt man so etwas "systematisches Staats-Doping". 

Feierlicher 4Plus2-Vertrag

Dass sich dieses TV-Duell, wie man sagt, eingebürgert hat und dass gegen seine Ausstrahlung weder 18-Prozent-Westerwelle (FDP) noch der "Auf-dem-Weg-zur-Volkspartei"-Trittin (Grüne) auch nur den leisesten Protest erheben, ist wiederum ein sicheres Indiz dafür, dass das Duell ein Fernsehformat zur Beförderung der sonntäglichen Regression ist: Man schaut es sich mit dem gleichen Interesse an wie einen Tatort aus Ludwigshafen, um es genauso schnell zu vergessen wie einen Tatort aus Ludwigshafen.

Denn in Wahrheit handelt es sich bei der Übertragung des so genannten "TV-Duells" ja um nichts anderes als die feierlich in Szene gesetzte Unterzeichnung eines mühsam ausgehandelten 4Plus2-Vertrags, bei dem - ganz so wie beim historischen Vorbild - vier Moderatoren-Großmächte das Sagen haben, um zwei Politiker aus Deutschland irgendwie miteinander ins, nunja: Gespräch zu bringen. Und natürlich stehen, wie bei jeder ordentlichen Vertragsunterzeichnung, die Einzelheiten des Zeremoniells schon fest: vorgefertigte Fragen, abgezählte Minuten, abgezirkelte Statements - und hinterher wird jede Seite den Vertrag als Verhandlungserfolg für sich reklamieren. 

Kein Duell wie im "Zauberberg"

Wobei nichts gegen das Zeremonielle an sich gesagt ist. Auch das klassische Duell bezog seine Spannung weniger aus der Sekunde seiner Durchführung als durch seine minutiöse Vorbereitung, durch die sorgsame Auswahl der Sekundanten, die Bestimmung von Zeitpunkt und Ort des Zweikampfs, das schrittweise Sich-Entfernen vom Gegner... Aber ganz im Gegensatz zum vielleicht berühmtesten Duell der Weltliteratur findet das Duell zwischen Angela Merkel und Peer Steinbrück nicht etwa am Ende einer tausendseitigen Weltanschauungsschlacht statt, sondern zu Beginn der, wie es heißt: heißen Wahlkampfph(r)ase. Ach, wie herrlich haben sich Settembrini und Naphta im "Zauberberg" gestritten, bevor sie zum Duell ihrer Geisteshaltungen schritten: der lebensbejahende Fortschrittsgeist und der anarchische Pantheist, der kulturfreundlich Vernunftbegabte und der kaltscharf Verneinende, der demokratische Aufklärer, der immer wohlfeil "auf dem Vernunfthörnchen" zu blasen versteht, und der mephistophelisch doktrinäre Terrorist, der die "Satansherrschaft des Geldes" mit gottesstaatlichen Mitteln abschaffen will. Am Ende des Romans stehen sich abendländische Zivilisation und eingewurzelte Kultur gegenüber, das Wissen der Wissenschaft und die Wahrheit der Unvernunft - und der engagierte Diskursivliterat duelliert sich mit dem weltfremdelnden Romantiker.

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