Tauchsieder
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Die Kesselflicker

Die Ampel-Chefs pflegen ihre Sonderwünsche und nehmen Klientelrücksichten - nur eine zielgenaue Entlastung gelingt ihnen in der Energiekrise nicht. Dabei liegt die Lösung auf der Hand. Ist die Ampel schon Geschichte?

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So weit wie man im Schweizer Örtchen Zug bereits vor zehn Jahren war, sind wir in Deutschland noch lange nicht. Die Briefkastenmetropole Europas hat jahrzehntelang systematisch die Steuern gesenkt, um etwa Rohstoffkonzernen und Energieriesen die Gewinnmaximierung zu erleichtern – und jede Steuersenkung hat dem Kanton mehr Wohlhabende, mehr Firmen, mehr Einnahmen, mehr Expats beschert.

Zu den Nebeneffekten des staatsliberalen Konzern-Pamperings gehörte, dass die Wohnpreise explodierten – und dass es im Kanton plötzlich Hilfsbedürftige gab, auf die der Fiskus in Deutschland mit dem Spitzensteuersatz zugreifen würde. Der Chef des Sozialamtes zum Beispiel hätte damals als Kunde bei sich selbst vorsprechen dürfen, um in den Genuss von Zuschüssen für den Bau einer Wohnung zu kommen: Der Kanton hatte für seine 120.000 Einwohner ein 50 Millionen Franken schweres Förderprogramm aufgelegt – und antragsberechtigt waren Haushalte mit einem Einkommen bis 120.000 Franken.

Wie gesagt, so weit sind wir in Deutschland nicht – und so weit wird es auch nicht kommen. Dafür sind Lohnniveau, Lebensstandard und Lebenshaltungskosten in der Metropolregion Zürich zu hoch. Das durchschnittliche Einkommen in Zug liegt heute bei rund 7000 Franken netto – und der zentralschweizer Kanton kann es sich leicht leisten, für seine Bürger viel tiefer in die Tasche zu greifen als die Berliner Ampelkoalitionäre, um seine, nun ja: relativ verarmenden Normalbürger als Dienstleister und Zulieferer der Reichen mit allerlei Alimentationen bei Laune (und in der Heimat) zu halten.

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Und doch treiben Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und seine Premiumminister Robert Habeck (Grüne) und Christian Lindner (FDP) Deutschland seit Wochen einer politischen Situation entgegen, in denen auch Normal- und Gutverdiener zu Bittstellern des Staates werden, weil die Lebenshaltungskosten sie schon bald überfordern. Der Gaspreis für Neukunden hat sich gegenüber dem Vorjahr auf inzwischen 34 Cent pro Kilowattstunde versechsfacht, der Strompreis zuletzt sogar verzehnfacht.

Irrational Exuberance, klar. Da schlagen sich Spekulanten und einige Unternehmen gerade die Taschen voll. Aber die Dimensionen des Preisauftriebs sind schon niederschmetternd.

Schlügen die Großhandels- und Future-Preise durch, müsste Deutschland 2023 rechnerisch ein Fünftel seines BIPs für Strom und Gas ausgeben. Müssten Unternehmen und Verbraucher sie bezahlen, kollabierte die Wirtschaft - und jeder zweite Bürger müsste binnen weniger Monate Privatinsolvenz anmelden. 

Und was unternimmt die Regierung? Sie pampert „systemrelevante“ Energiekonzerne, die heute nur deswegen ihre Risiken vergemeinschaften dürfen, weil sie sich gestern reditehungrig Wladimir Putin ausgeliefert haben. Sie stützt nicht systemrelevante Unternehmen, die munter Milliarden verdienen und trotzdem die Hand für Einnahmen aus der Gasumlage aufhalten. Sie schont Ölkonzerne und Ökostromanbieter, die in der Krise leistungslose Superrenten erwirtschaften. Und sie verteilt milliardenschwere Trostpflästerchen an alle, ganz gleich, ob sie gar keines bräuchten – oder aber einen schweren Wundverband.

Not täte statt dessen eine zeitlich begrenzte Entgrenzung des Sozialstaates, eine vorübergehend großzügige Defintion von Bedürftigkeit - eine befristete Generosität, die den Gleichheitsgrundsatz zum Lobe der Solidarität temporär suspendiert.

Wie das konkret aussehen könnte? Im Zentrum des dritten Entlastungspakets dürfen weder das Bürgergeld noch die Abschaffung der kalten Progression stehen, also die Lieblingsprojekte der Ampel-Antipoden, sondern eine sehr weit reichende Reform des Wohngeldes und eine erhebliche Vergrößerung des Kreises der Wohngeld-Berechtigten.

Die Ukraine darf den Krieg nur erdulden, nicht gewinnen. Die Regierung verzwergt Bürger zu barmenden Bittstellern. Der Ampel-Chef agiert arrogant, ignorant, instinktlos. Eine Bilanz des Schreckens.
von Dieter Schnaas

Bisher haben nur sehr einkommensschwache Bürger Anspruch auf Wohngeld, das heißt: Ein Single in Berlin, der Vollzeit arbeitet, mit dem künftigen Mindestlohn entlohnt wird (zwölf Euro die Stunde) und 500 Euro Kaltmiete zahlt, darf nicht mit einem Zuschuss rechnen. Wohl aber hätte er am Ende des Monats bald deutlich weniger Geld zur Verfügung als ein Hartz-IV-Empfänger, dessen Ansprüche sich auf 449 Euro plus Warmmiete, also auch auf die Heizkosten, erstrecken. Zugespitzt gesagt: Für den arbeitenden Bezieher von Wohngeld ändern die steigenden Gaspreise alles – für den arbeitslosen Hartz-IV-Empfänger ändern sie nichts.

Moral hazard im Sozialsystem

Es ist daher ein bisher viel zu wenig beachteter Aspekt der Entlastungsdebatte, dass das juristisch längst außer Kraft gesetzte „Lohnabstandsgebot“ – vulgo: ein Arbeitender muss mehr verdienen als ein Nicht-Arbeitender – vollends zu erodieren droht und der moral hazard in Deutschlands Sozialsystem sich in den nächsten Jahren nicht mehr nur auf Einzelfälle („Aufstocker“) erstrecken, sondern endemische Züge annehmen könnte. Das kann und darf die Ampel nicht zulassen.

Nähme sie ihren Selbstanspruch „zielgenauer“ Hilfen endlich beim Wort, müsste sie erstens die Heizkosten (am besten gleich verbunden mit Sparanreizen) in das künftige Wohngeld integrieren – und zweitens den Kreis der Anspruchsberechtigten (möglicherweise in Stufen) bis weit in die untere Einkommensmitte der Gesellschaft hinein vergrößern.

Denn wenn es stimmt, dass die Hälfte der Deutschen über keine Geldreserven verfügt und vom monatlichen Cashflow abhängig ist, also buchstäblich von der Hand in den Mund lebt; wenn es außerdem stimmt, dass die Energiekosten den Menschen derzeit die mit Abstand größten Finanzsorgen bereiten – dann kann die Politik diese Menschen im Moment nicht zielgenauer entlasten als über das Wohngeld.

Zum Charme der Lösung gehörte überdies, dass Politiker aller Parteien sich dafür loben könnten, „das Menschenrecht auf Wohnen“ (Bauministerin Klara Geywitz, SPD) abgesichert, eine plausible Antwort auf die „soziale Frage des 21. Jahrhunderts“ (Ex-Bauminister Horst Seehofer, CSU) gefunden zu haben – plausibler jedenfalls als im Wege von Mietdeckeln und Preisbremsen, die auch einen Anspruch darauf verbürgen wollen, in bestimmten Gegenden einer Stadt zu wohnen.

Wird die Ampel eine solche Wohngeldreform, wie von Scholz am Freitag erstmals angedeutet, also auf den Weg bringen – und noch dazu den Mut aufbringen, die Leistungen zu befristen, also das Geld nur so lange zu gewähren, bis sich die Energiepreise normalisiert haben? Wahrscheinlich ist es nicht.

Dafür verschwendet sie viel zu viel Herzblut auf ihre (maximal widersprüchlichen) Langfristvorhaben – auch wenn einige seit Russlands Überfall auf die Ukraine und den Preissprüngen für fossile Energiequellen längst aus der Zeit gefallen sind.

Die im Koalitionsvertrag vereinbarte Bepreisung von CO2 und die symmetrische Auszahlung eines „Klimageldes“ etwa, von der Geringverdiener überproportional profitieren würden, weil sie weniger CO2 verbrauchen? Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat das Thema nicht etwa aufgegriffen, als er vor drei Monaten eine soziale Staffelung und Deckelung der Auszahlung vorschlug – sondern beerdigt: Das „Klimageld“ wird „Wohngeld“ oder gar nicht.

Die Abschaffung der kalten Progression wiederum, auf die Finanzminister Christian Lindner (FDP) dringt: Alles spricht im Grundsatz für sie, zumal in Zeiten der hohen Inflation – außer dass sie in der akuten Lage den Bedürftigen kaum weiterhilft.

Und das „Bürgergeld“ von SPD und Grünen? Verspricht höhere Regelsätze und weniger Sanktionen – und sendet für den Moment nur falsche Signale.

Ein Moratorium für alle Vorhaben aus der Zeit vor dem Wirtschaftskrieg mit Russland – es wäre das erste Gebot der Stunde.

Das zweite: ein Ende der Maßnahmenkaskaden und Scheindebatten. Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm etwa sieht sich auf Twitter inzwischen genötigt, das seit Wochen Nächstliegende („gezielte Entlastungen für Gaskunden“) mit drei Ausrufezeichen einzufordern, und ringt erkennbar um Fassung, wenn sie schreibt: „Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, warum man ewig über 2,4 ct/kWh Gasumlage streitet, wenn die Gaspreise gerade bei Neuverträgen auf über 30 ct/kWh (von 6 ct!) steigen!!!“ Wir alle, Veronika Grimm. Wir alle.



Aber Scholz und Habeck mussten die rettungslos komplizierte und intransparente Gasumlage ja einführen, um sie zwei Tage später im Wege einer Mehrwertsteuersenkung auf Gas wieder zu neutralisieren, statt die Preise durchzureichen und ex post auf alle Gaskunden zu verteilen, statt die weniger solventen Kunden großzügig zu entlasten – und zwei Unternehmen aus dem Staatshaushalt gezielt zu stützen (oder auch vorübergehend zu verstaatlichen). Jetzt folgt ein politischer Eingriff dem nächsten. Jetzt provoziert eine Korrektur die folgende. Jetzt redet ganz Deutschland über die Gasumlage – und nicht über die Gaspreise.

Und natürlich darüber, dass es vorne und hinten nicht reicht. Dass die Politik viel zu wenig tut. Ja, dass sie den Bürgern sogar etwas wegnimmt. Selbst schuld.

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