Tauchsieder
Quelle: dpa

Die Lockdown-Paniker

Der Mittelstand warnt vor einem „überzogenen Infektionsschutz“. Politiker mahnen: Noch einmal die Wirtschaft herunterfahren, das können wir uns „nicht leisten“. Was soll das? Über Don Quichotterien im Corona-Zeitalter.

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Der polnische Aphoristiker Stanislaw Jerzy Lec hat die Sozialfigur des Lobbyisten und politischen Leereverkäufers mal in ein schönes Sprachbild gefasst: „Es gibt Don Quichottes, die Wind säen, um mit Mühlen kämpfen zu können.“ In diesen Wochen sind mal wieder besonders viele Don Quichottes unterwegs. Sie schöpfen Bedeutung aus dem Nichts und handeln mit heißer Luft, sie erzeugen Stürme im Wasserglas und erfinden Phantome, um ihnen nachjagen zu können. Natürlich, diese Don Quichottes wissen, dass es in der Politik vor allem darum gehen sollte, Macht zu akkumulieren, um Probleme zu lösen. Aber sie wissen auch, dass es im politmedialen Raum um etwas ganz anderes geht, nämlich um die dauernde Simulation von Problemen - mit dem Ziel, sich Wählern und Interessengruppen als erfolgreiche Bearbeiter der simulierten Probleme anzuempfehlen.

Der Bundesverband mittelständische Wirtschaft (BVMW) etwa. Er hat am Freitag, wie es im Nachrichtendeutsch einer Vorabmeldung hieß, „eindringlich vor einem zweiten Corona-Lockdown“ gewarnt, was natürlich sogleich die Frage aufwarf, ob überhaupt noch Warnungen in Deutschland vorstellbar sind, die nicht „eindringlich“ vorgebracht werden können. Aber das nur am Rande. Die Mittelständler schreiben also einen „Brandbrief“ an Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass in den Betrieben das „Schreckgespenst“ eines zweiten Lockdowns umhergehe. Sie schreiben, dass numinose „Experten eine Insolvenzwelle nie gekannten Ausmaßes“ erwarten. Und sie schreiben, dass viele Unternehmen im Falle eines zweiten Lockdowns die „Hände heben“ müssten.

Das klingt plausibel. Aber warum die Form des „Brandbriefs“, warum eine „Petition“, warum der flehende, drohende Satz: „Bitte schließen Sie einen zweiten Lockdown verbindlich aus“? Wer soll sowas unterschreiben? Glauben sie beim Bundesverband, die Bundesregierung könne das Virus zur Ordnung rufen und seine Ausbreitung nachverhandeln wie den ersten Entwurf eines neuen Steuergesetzes? Unterstellt man gar, das Kanzleramt spiele lustvoll mit dem Gedanken, der Gastronomie und der Hotellerie, der Tourismuswirtschaft und dem Messebau, den Konzertveranstaltern und der Kreativszene den Todesstoß zu versetzen? An wen also soll die Warnung adressiert sein - wenn nicht an den BVMW selbst: an Don Quichotte, der Wind sät, um mit Mühlen kämpfen zu können? Niemand in Deutschland, vielleicht abgesehen vom kleinen, armen Häuflein bedeutungsstolz eingebildeter Zwangsstaatsopfer und emotional aufgewühlter Angstpsychosenfreunde, ist an einem „zweiten Corona-Lockdown“ interessiert.

Schon möglich, dass der BVMW der Bundesregierung unterstellt, sie unterschätze die heikle Lage, in der sich viele Betriebe, Gründer und Selbstständige im sechsten Monat der Coronakrise befinden. Aber warum schreibt er es dann nicht? Politisch zu kritisieren, mindestens zu hinterfragen, gäbe es genug. Etwa eine Regierung, die das Risiko einer frühen Wiederaufnahme des transnationalen Reiseverkehrs wohl auch deshalb einging, um einen unterstellten Stressstau (vor allem junger Männer in der Party-Hooligan-Szene; Stuttgart! Frankfurt!) aufzulösen. Eine Regierung, die keinen bundeseinheitlichen Regelrahmen für Schulöffnungen und Großveranstaltungen schafft. Eine Regierung, die auch den Italien- und Griechenland-Tourismus ausbremst, obwohl das virale Reimportproblem womöglich vor allem von Verwandtschaftsbesuchen auf dem Balkan und in der Türkei herrührt. Eine Regierung, die mitten in der „größten Herausforderung nach dem Zweiten Weltkrieg“ (Merkel) über die Einführung einer Vier-Tage-Woche mit teilweisem Lohnausgleich nachdenkt, also über eine Anhebung der Lohnkosten. Oder auch eine Regierung, die angeblich systemrelevanten Konzernen (Lufthansa, Tui) mit Beteiligungen und Wandelanleihen zu Hilfe eilt, während sich alle anderen mit Krediten und Kurzarbeitergeld behelfen müssen.

Statt dessen kritisiert der BVMW, Schulen dürften nicht wegen vereinzelter Erkrankungen geschlossen werden. Und ein „überzogener Infektionsschutz“ dürfe nicht wieder Vorrang vor dem Schutz von Wirtschaft und Wohlstand haben. Wieder? Überzogen? Vorrang? An diesem Satz ist alles falsch. Wie genau hätte ein BVMW in Regierungsverantwortung im März 2020 die mittelständische Wirtschaft denn bitteschön geschützt? Was weiß der BVMW über COVID-19, was Virologen und Mediziner weltweit bisher nur erahnen können? Wie viele tausend Menschenleben würde der BVMW denn dem Wohl der Wirtschaft opfern? Und wie genau stellt sich der Verband einen weniger überzogenen Schutz vor? Masken runter - und Türen auf für alle Großraumbüros? Man würde das alles schon gerne wissen. Aber dem BVMW geht es nicht um Politik, sondern um das, was er für eine lobbyistische Großgeste hält. Er will nicht zur Lösung eines Problems beitragen, sondern Wind säen - und sich als Mühlenkämpfer Nummer eins inszenieren.

Es gibt noch viele andere Don Quichottes in der deutschen Politik. Sie alle sagen, Deutschland könne sich einen zweiten Lockdown „nicht leisten“. Der niedersächsische Wirtschaftsminister Bernd Althusmann sagt es. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Rainer Haseloff sagt es. Und Ralph Spiegler, der Präsident des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, sagt es auch. Mal abgesehen davon, dass sich die Deutschen natürlich einen zweiten, dritten und auch vierten Lockdown „leisten“ könnten, wenn sie es müssten - Mitteleuropa hat bekanntlich schon Hyperinflationen und Weltkriege erlebt. Abgesehen davon also: was ist mit diesem „nicht leisten“ gewonnen? Und was folgte daraus? Als läge es nicht in der Hand der Politiker, einen zweiten Lockdown, den wir uns angeblich nicht leisten können, zu verhindern. Nach Lage der Dinge lässt sich er sich aber nur auf zweierlei Weise vermeiden: im Wege der Kapitulation vor dem Virus (wer unterzeichnet die Urkunde?) oder im Wege seiner versuchsweisen Kontrolle - eine „Daueraufgabe“, so der bayerische Ministerpräsident Markus Söder, „die uns permanent unter Stress setzt“.

So einfach ist es, und genauso geschieht es auch. Dafür braucht es keine Don Quichottes. Sondern Regierungspolitiker, die unser Leben mit dem Virus möglichst gut zu gestalten versuchen - und Oppositionspolitiker, die diese Versuche sachlich kritisieren. Man nennt das Politik. Und im Augenblick kann man dabei einen Gesundheitsminister beobachten, der seine Aufgabe gut erledigt und nach langen Anlaufschwierigkeiten wachsam ins Offene regiert: mit höflicher Striktheit und freundlicher Strenge, mahnend, nicht strafend, ermunternd, nicht bevormundend. Es ist jedenfalls kein Wunder, dass viele in der Union und in Deutschland neben Söder inzwischen ausgerechnet Jens Spahn, den vormals talentierten Parvenü der CDU, den ehemaligen Ichling, den überehrgeizigen, geltungssüchtigen Zuspitzer und Ausgrenzer in der Nachfolge von Kanzlerin Angela Merkel sehen würden.

Zumal wir, auch das gehört zur Wahrheit, von einer „zweiten Welle“, einem „zweiten Lockdown“ in Deutschland derzeit weit entfernt sind, allen steigenden Infiziertenzahlen zum Trotz. Es besteht Anlass zu Wachsamkeit und Sorge, nicht zu Panik und Brandbriefen. Das durchschnittliche Alter der Coronakranken ist deutlich niedriger als noch im März/April. Die Krankheitsverläufe sind im Schnitt milder. Der Anteil derer, die im Krankenhaus behandelt werden müssen, noch dazu intensivmedizinisch, ist vergleichsweise gering. Und natürlich verringern Maskenpflicht und Hygienevorschriften, sommerliche Außenaufenthalte und das Verbot von Massenveranstaltungen das Risiko einer Explosion der Infiziertenzahlen. Warum es also nicht einmal mit vorsichtiger Zuversicht und zuversichtlicher Vorsicht versuchen? Die Büroarbeiter in Deutschland kehren schrittweise an ihre Arbeitsplätze zurück, die Außengastronomie hat gut zu tun. Die ersten Schulwochen sind, im Großen und Ganzen, friktionsfrei über die Bühne gegangen. Unternehmer und Arbeitnehmer, Bürger und Konsumenten sind auf einem historisch und weltweit einmalig hohem Niveau abgesichert und versorgt. Kurz: Das meisten Deutschen geht es blendend - trotz des Virus und der minimaltemporalen Einschränkungen dessen, was sie in diesen Wochen gern besonders vollmundig unter „Freiheit“ verstehen.

Freuen wir uns also zur Abwechslung mal ein paar Tage darüber, wenn schon, denn schon, ausgerechnet hier und heute mit einer Pandemie leben zu müssen. Genießen wir den „überzogenen Infektionsschutz“ und unser hohes Wohlstandsniveau. Lassen wir die Don Quichottes nur ruhig weiter gegen ihre Mühlen anrennen. Zollen wir dem Virus auch weiterhin Respekt - zum Wohle der Wirtschaft. Der Sommer war nicht groß. Der Herbst kann noch mal ziemlich ungemütlich werden.

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