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Tauchsieder Die Lüge von den Segnungen des Marktes

Die wachsende Ungleichheit bedroht den Leistungswillen der liberalen Gesellschaft. Neuerdings sind sogar die Finanzmärkte besorgt, dass die Schere zwischen Reich und Arm immer weiter aufgeht.

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Die Geschichte der freien Marktwirtschaft
Metamorphose IIn der Frühphase des Kapitalismus werden aus Landarbeitern Handwerker: Webstuhl im 19. Jahrhundert in England. Quelle: imago / united archives international
Metamorphose IIMit der Industrialisierung werden aus Handwerkern Arbeiter: Produktion bei Krupp in Essen, 1914. Quelle: dpa
Metamorphose IIIIm Wissenskapitalismus werden Arbeiter zu Angestellten und Proletarier zu Konsumenten: Produktion von Solarzellen in Sachsen. Quelle: dpa
Ort der VerteilungsgerechtigkeitDen reibungslosen Tausch und die Abwesenheit von Betrug – das alles musste der Staat am Markt anfangs durchsetzen. Quelle: Gemeinfrei
Ort der KapitalkonzentrationDer Börsenticker rattert, die Märkte schnurren, solange der Staat ein wachsames Auge auf sie wirft Quelle: Library of Congress/ Thomas J. O'Halloran
Ort der WachstumsillusionWenn Staaten Banken kapitalisieren, sind das Banken, die Staaten kapitalisieren, um Banken zu kapitalisieren... Quelle: AP
Karl MarxFür ihn war der Unternehmer ein roher Kapitalist, ein Ausbeuter, der Arbeiter ihrer Freiheit beraubt. Quelle: dpa

Wenn man den französischen Ökonomen Thomas Piketty und das Ergebnis seiner Forschungen über materielle Ungleichheit verstehen möchte, kann man sich durch seine 800 Seiten starke Abhandlung über "Das Kapital im 21. Jahrhundert" (2014) arbeiten - oder aber den "Germinal" des französischen Schriftstellers Émile Zola aus dem Jahre 1885 lesen. Es gibt in Zolas Roman, der die Industrialisierung und die mit ihr einhergehenden sozialen Probleme seismografiert, eine wundervolle Szene, in der ein gewisser Grégoire eingeführt wird, "bekleidet mit einer weiten Barchentjacke, trotz seiner 60 Jahre noch rosig, unter seinem schneeweißen, lockigen Haar ein offenes, ehrliches, gutmütiges Gesicht" - ein zufriedener Rentier, der "im atemberaubenden Aufschwung von der so zaghaft und ängstlich gemachten Einlage seines Urgroßvaters" profitiert. 

Was die Menschen vom Kapitalismus halten

Natürlich ist Grégoire von "tiefer Dankbarkeit für eine Geldanlage" erfüllt, "die die Familie seit einem Jahrhundert ohne ihr Zutun ernährte, in ihrem breiten Faulenzerbett wiegte und an ihrer Feinschmeckertafel mästete", schreibt Zola mit herrlichem Sarkasmus: Selbst in der Wirtschaftskrise lachte Gregoire immer noch, "bedauerte nichts", in tiefem Glauben an sichere Rendite und gesegnet mit fast schon religiöser Zuversicht: Der "Kurs würde schon wieder steigen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche".

Staatspleiten sind die Regel

Lässt sich das zentrale Forschungsergebnis von Thomas Piketty aus dem Jahre 2014 anschaulicher darstellen als in den Worten Zolas aus dem Jahre 1885? In den saturierten Volkswirtschaften des Westens, die seit vier Jahrzehnten dem Schwellenland-Tempo entwachsen sind, so Piketty, steigen die Vermögen schneller als die Arbeitseinkommen, weshalb sich die Wohlstandslücke zwischen Reich und Arm nicht nur vergrößert, sondern auch prinzipiell unschließbar ist. Mit dem Ergebnis, dass wir es mit einer neuen Klassengesellschaft zu tun haben, die in eine (kleine) Besitzklasse der Vermögenden und Rentiers einerseits und in eine (große) Erwerbsklasse der arbeitenden Leistungserbringer andererseits zerfällt (zu einer kritischen Besprechung von Pikettys Buch geht es hier, zu einer Kritik seiner Kritiker hier) An diesem Grundbefund wird auch von konservativ-liberaler Seite kaum noch gezweifelt. Zu erdrückend ist die Evidenz der Daten, zu peinlich klar die Beweislage: Laut der Nichtregierungsorganisation Oxfam besitzen die reichsten 85 Menschen der Welt so viel wie die ärmsten 3,5 Milliarden... Erbschaften werden in Deutschland mit durchschnittlich zwei Prozent besteuert, Kapitalerträge mit skandalös niedrigen 25 Prozent, Arbeitseinkommen hingegen mit bis zu 47 Prozent... Das reichste Zehntel aller Haushalte, das 1970 über 44 Prozent des gesamten Nettovermögens verfügte, besaß 2010 bereits 66 Prozent... Gleichzeitig verfügte die Hälfte aller Deutschen über gar kein Vermögen oder aber über ein negatives Vermögen (Schulden).

Besonders eindrücklich war das Material, dass das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) vor genau einem Jahr präsentierte: Nicht etwa in Griechenland mit seinen superreichen Reedern und krisengeschüttelten Einzelhändlern, Lehrern und Arbeitslosen ist die Ungleichheit der Vermögen besonders groß, sondern - in Deutschland. Mehr noch: In keinem anderen OECD-Land, von den USA einmal abgesehen, ist der Reichtum so ungleich verteilt wie hierzulande, so die DIW-Forscher. Während der so genannte Gini-Koeffizient, der auf einer Skala von 0 (niedrig) bis 1 (hoch) die Ungleichheit einer Gesellschaft misst, in Deutschland bei den Einkommen bei einem ziemlich konstant niedrigen Wert von 0,28 liegt, ergibt sich bei den Vermögen ein vollkommen anderes Bild: Hier liegt der Gini-Koeffizent bei stattlichen 0,78 und damit deutlich über den Werten für Frankreich (0,68), Italien (0,61) oder der Slowakei (0,45). Natürlich, auch diese Statistik ist nur so richtig wie die Kriterien, die ihr zugrunde liegen: Rechnete man etwa die Renten- und Pensionsansprüche mit ein, sähe die Lage wahrscheinlich schon etwas anders aus. Doch so oder so: Es schockiert, dass die Konzentration von Eigentum in der Hand weniger ausgerechnet im Mutterland der "Sozialen Marktwirtschaft" besonders ausgeprägt ist. (Eine ausführliche Analyse der materiellen Ungleichheit in Deutschland, ihrer volkswirtschaftlichen Nachteile sowie Vorschläge zu ihrer Behebung gibt es hier.

Formen der Ungleichheit sind nicht nur moralisch zweifelhaft

Nun ist in diesen Tagen ein schmaler Band mit dem Titel "(Un-)Gerechte (Un-)Gleichheiten"* erschienen, der auf 200 Seiten 20 kurze, leicht konsumierbare Aufsätze von 20 medienerprobten und schreibsicheren Soziologen, Ökonomen, Politologen und Publizisten versammelt - ein Büchlein, das den Anspruch erhebt, das Bindestrich-Thema "Gerechtigkeit" in seinen vielen (politischen) Facetten auf den aktuellen Stand der akademischen Dinge zu bringen und von links bis rechts durch zu deklinieren: Bildung, Markt, Sozialstaat, Geschlechter, Erbschaften, Migration, Demokratie.

Hier wohnen die meisten Millionäre
Platz 10: OmanDas Öl hat den Oman reich gemacht: 3,7 Prozent der Haushalte haben mehr als eine Million Dollar. Das geht aus der Studie „Global Wealth 2014“ der Unternehmensberatung BCG hervor. Im Oman vertreiben die Reichen sich ihre Zeit unter anderem mit Kamelrennen. Quelle: obs
Platz 9: TaiwanIn Taiwan bevorzugt die Oberschicht Drachenbootrennen. Etwa einer von 25 Haushalten verfügt über mehr als eine Million Dollar. Insgesamt wachsen die Vermögen in Asien am schnellsten. Quelle: AP
Platz 8: IsraelTrotz religiöser Konflikte ist die Reichen-Dichte in Israel recht hoch: 4,6 Prozent aller Familien besitzen eine Million Dollar oder mehr. Gute Zeiten für Goldhändler wie hier in Jerusalem. Quelle: REUTERS
Platz 7: USAInsgesamt wohnen mehr als sieben Millionen Millionäre in den USA. Das entspricht knapp sechs Prozent aller Haushalte. Unter den Reichen gehört es zum guten Ton, das Geld auch für die Allgemeinheit einzusetzen: Hier etwa ein Museum, das die Unternehmerfamilie Getty finanziert hat. Quelle: AP
Platz 6: BahrainIn puncto Millionärsdichte ist der Öl-Staat Bahrain gleichauf mit den USA. Statt Museen bauten die Scheichs unter anderem in eine Formel 1-Rennstrecke mitten in der Wüste (Kosten: 123 Millionen Dollar). Quelle: dpa/dpaweb
Platz 5: KuwaitÖlstaat, der Dritte: Neun von hundert Haushalten in Kuwait haben mehr als eine Million Dollar zur Verfügung. Statt Formel 1 bevorzugt man hier traditionelle Sportarten wie die Falkenjagd. Quelle: REUTERS
Platz 4: Hong KongKaum eine Stadt ist dichter besiedelt als Hong Kong. Und fast jeder zehnte Haushalt hat mehr als eine Million auf dem Konto... Quelle: AP

Und - ist das Buch zu empfehlen? Nun, eine Antwort darauf ist gar nicht so leicht. Sagen wir es so: Als Einstieg ins Thema ist "(Un-)Gerechte (Un-)Gleichheiten", herausgegeben vom Bremer Soziologen Steffen Mau und seiner Kollegin Nadine M. Schöneck, unbedingt empfehlenswert; wer allerdings mit den Themen, Argumenten und Thesen von Autoren wie Heinz Bude, Hartmut Rosa, Sighard Neckel, Stephan Lessenich oder Jens Beckert einigermaßen vertraut ist, wer zwischen Leistungs-, Chancen- und Verteilungsgerechtigkeit zu unterscheiden weiß, die Pathologien des Bildungssystems kennt und schon mal über das Für und Wider von Erbschaftssteuern nachgedacht hat - für den ist das Buch nicht viel mehr als ein willkommenes Update und Refresh. Wobei - so ganz stimmt auch das nicht. Denn so wenig grundstürzend die meisten der versammelten Beiträge auch sind, so gering ihr Erkenntnis- und Neuigkeitswert im einzelnen auch sein mag - am Ende erweist sich das Ganze paradoxerweise viel größer die Summe seiner Teile. Mehr noch, es ist nach all den ideologisch aufgeladenen Debatten der vergangenen Jahre von einer kleinen Sensation zu berichten: Die Ungleichheitsforschung ist sich in vier wesentlichen Punkten einig - und hat sich damit gewissermaßen endlich selbst ein tragfähiges Fundament gelegt.  

 

Was macht die EU gegen Jugendarbeitslosigkeit?

Erstens: Es ist wichtig, die Frage nach dem "richtigen Maß" von materieller Ungleichheit mit dem doppelten Blick auf die Machtkonzentration der oberen Einkommens- und Vermögenslagen und auf eine sich verfestigende Chancenlosigkeit von Unterschichten zu stellen - das erkennen sowohl vormalige Apologeten der Ungleichheitstoleranz (vulgo: Liberale) als auch castronostalgische Kapitalismuskritiker (vulgo: Sozialisten) an, die noch vor wenigen Jahren jedes Millionengehalt als Raub am ausgebeuteten Proletariat konfiszieren wollten. Konsens ist: Die materielle Ungleichheit in Industrieländern nimmt zu, die Hyperkonzentration von Vermögen sogar dramatische Züge an, womit im buchstäblichen Sinn die Frage nach der "Macht des Geldes", genauer: nach der Macht des demokratisch nicht legitimierten Finanzpublikums gestellt ist. Das ist ein wichtiger Punkt, denn es gab bis zuletzt marktreligiöse Forscher und Publizisten, die das Thema "Ungleichheit" unter Neid- und Linksverdacht gestellt, die Oligarchisierung der Finanzmärkte und organisierten Steuerbetrug marginalisiert oder aber die Signifikanz des Themas mit abwegigen Äpfel-Birnen-Vergleichen (die neue "globale Mittelschichten"!) schlicht geleugnet haben.

Zweitens: Bestimmte Formen vom "Ungleichheit" sind nicht nur moralisch zweifelhaft, sondern vor allem dysfunktional, weil sie sich selber reproduzieren, vervielfältigen und fortschreiben, das heißt: "Ungleichheit" hat eine statische und eine dynamische Seite - "mit gravierenden Folgeschäden für wirtschaftliches Handeln und soziale Integration", so Steffen Mau: Die elementarste Ungerechtigkeit liegt dann vor, wenn eine Gesellschaft durch ihre Versteinerung auffällig wird - wenn sozial unterprivilegierte Menschen so gut wie keine Perspektive mehr haben, ihrer sozialen Unterprivilegiertheit zu entkommen. 

Ungleichheit schadet der Gesellschaft

Drittens: Das Wirtschaftswachstum in Industrieländern, erst recht die Gewinne von Konzernen (und die Spitzengehälter von Managern) haben sich von Lohnentwicklung und Wohlstandszuwachs der Arbeitnehmer abgekoppelt. Statt zu breiter Wohlstandsverteilung kommt es seit den 1970er Jahren zu Reichtumskonzentration: trickle up statt trickle down. Das kapitalistische Versprechen Ludwig Erhards ("Wohlstand für alle"), demzufolge "man sich durch harte Arbeit auch ein paar schöne Dinge leisten kann", schreibt der Soziologe Heinz Bude schlicht und ergreifend, "geht bei den einfachen Dienstleistungen,... beim Serviceproletariat... nicht auf." Die Folgen sind gravierend, zunächst einmal für die Unterschicht: psychische Erkrankungen, gesundheitliche Anfälligkeit, eine deutlich reduzierte Lebenserwartung. In den USA, weiß Bude zitierend zu berichten, leben Weiße mit hoher Schulbildung durchschnittlich zwölf Jahre länger als Schwarze mit geringen Schulkenntnissen. Und während sich in England in den vergangenen drei Jahrzehnten die Wirtschaftsleistung verdreifachte, hat sich zugleich die Anzahl der Haushalte, die ihre Wohnung im Winter nicht ausreichend heizen können, von 14 Prozent auf 33 Prozent erhöht.

In welchen Branchen Mindestlöhne bereits fällig sind
FleischindustrieDie Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) fordert einen bundesweiten Mindestlohn von 8,50 Euro für die deutsche Fleischindustrie. In der Branche arbeiten rund 80.000 Arbeitnehmer. Die Bezahlung der Mitarbeiter in der Branche ist bisher über einzelne Haus- oder regionale Tarife geregelt, die nur rund 27. 000 Beschäftigte erfasst. Nach Gewerkschaftsangaben wiesen die Arbeitgeber die Forderung zurück. Dies sei zwar für den Westen möglich, kurzfristig jedoch nicht für die ostdeutschen Bundesländer. Nach mehreren Stunden vertagten die Tarifparteien die Gespräche auf den 17. Dezember. Die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns in Deutschland ist auch Ziel der SPD in ihren Koalitionsverhandlungen mit der CDU/CSU. Quelle: dpa
Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) warnt vor einem flächendeckenden Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde. Die Politik solle mit einer niedrigeren Lohnuntergrenze - beispielsweise bei sieben Euro - beginnen und sich langsam steigern. Insgesamt würden bei einem Mindestlohn von 8,50 Euro 17 Prozent der Arbeitnehmer einen höheren Stundenlohn erhalten - die Lohnsumme würde jedoch nur um drei Prozent steigen, so das DIW. Schließlich gebe es viele Niedriglöhner, deren Partner gut verdienen. Das Plus werde dann von der Steuer gefressen. Auch Arbeitslose, die sich etwas dazu verdienen, hätten nichts vom höheren Lohn, da dieser mit den Sozialleistungen verrechnet werde. Der Mindestlohn von 8,50 Euro hätte dagegen zur Konsequenz, dass mehr Unternehmen auf Minijobs als auf Festangestellte setzen und letztlich die Preise bei den sogenannten konsumnahen Dienstleistungen steigen. Frisöre, Kleinst- und Gastronomiebetriebe würden die höheren Lohnkosten an die Kunden weitergeben. Quelle: dpa
In der Friseurbranche wird es ab August 2015 einen bundesweit einheitlichen Mindestlohn von 8,50 Euro geben. Dem Tarifvertrag wollen laut Angaben von Landesverbänden und der Gewerkschaft Verdi auch mehrere Friseurketten betreten. Bis Ende Juni soll der Vertrag von allen Seiten unterschrieben sein. Der flächendeckende Mindestlohn werde von August 2013 an in drei Stufen eingeführt. Der Osten startet mit 6,50 Euro Stundenlohn, der Westen mit 7,50 Euro. Diese verschiedenen Stufen waren nötig, weil bislang regional sehr unterschiedliche Tarifverträge existierten. In den neuen Bundesländern gab es zum Teil Ecklöhne von nur knapp mehr als drei Euro pro Stunde, wie Verdi-Verhandlungsführerin Ute Kittel sagte. Quelle: dpa
In welchen Branchen Mindestlöhne bereits fällig sindDie Zeitarbeit führt als elfte Branche in Deutschland ab dem 1. Januar 2012 Mindestlöhne ein. Festgelegt ist, dass dann bis zum 31.Oktober 7,89 Euro in Westdeutschland und 7,01 Euro in Ostdeutschland gezahlt werden müssen. Zwischen dem 1. November 2012 und dem 31. Oktober 2013 wird die Lohnuntergrenze dann auf 8,19 Euro in Westdeutschland und 7,50 Euro in Ostdeutschland angehoben. Quelle: Hans-Böckler-Stiftung Quelle: dpa
Im Wach- und Sicherheitsgewerbe gilt seit dem 1. Juni 2011 ein Mindestlohn von 6,53 Euro. Anders als in den meisten Branchen ist der Tarif hier deutschlandweit einheitlich. Zum 1. Januar 2013 sollen die Stundenlöhne steigen, die Beschäftigten können dann mit einem Tarif zwischen 7,50 Euro und 8,90 Euro rechnen. Foto: dpa   Quelle: Hans-Böckler-Stiftung
Wäschereien müssen ihren Beschäftigten im Osten 6,75 Euro die Stunde zahlen. Im Westen liegt der Mindestlohn über einen Euro höher, hier bekommen Angestellte mindestens 7,80 Euro. Quelle: dpa
Reinigungskräfte bekommen für den Innendienst einen Stundenlohn von sieben Euro (Ostdeutschland) und 8,55 Euro (Westdeutschland). Genau 2,78 Euro mehr pro Stunde… Foto: dpa

Aber Ungleichheit schadet auch der Gesellschaft als Ganzes: Sie schwächt den sozialen Zusammenhalt, segregiert die Bevölkerung und befördert "soziale Schließungen" - eine Entwicklung, die kürzlich sogar die Rating-Agentur Standard & Poor's besorgte: Komme es zu einer anhaltenden Konzentration der Einkommen aus Arbeit und Kapital, so das Argument der Finanzmarktagentur, bleibe die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen aus. Und nicht nur das: Stagnierende Einkommen, das heißt Verschuldung zur Stabilisierung des Konsumniveaus, das heißt aufgeblähte Kreditmärkte das heißt Instabilität der Märkte das heißt Wachstumsschwäche das heißt Risikoplus und Renditeverlust... - kurz: Ungleichheit schadet Investoren.


Besonders beunruhigend aber ist "die klassenspezifische Exklusion von politischer Beteiligung", so der Politologe Wolfgang Merkel: "Es kann als empirisch gesicherte Faustregel gelten, dass mit sinkender Wahlbeteiligung die soziale (Selbst-)Exklusion bestimmter Gruppen steigt. Es ist nicht ein sozialstruktureller Querschnitt der Gesellschaft, der dann den Wahlurnen fernbleibt, sondern es sind die unteren Schichten, die aus der politischen Partizipation aussteigen."

Wo die Zufriedenheit wirklich zu Hause ist
Was ist Glück? Ein riesiges Kleeblatt im Feld? Vielleicht auch das – schließlich braucht jeder etwas anderes zum Glücklichsein. Für den „Glücksatlas“ hat das Institut für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Deutschen Post auch dieses Jahr wieder eine repräsentative Gruppe Deutscher gefragt: „Alles in allem, wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Leben?“ Auf einer Skala von 0 bis 10 antworten die Befragten und liefern so ein vergleichbares Ergebnis für die Glücksforschung. Quelle: dpa/dpaweb
Das Ergebnis: Die Deutschen haben sieben Glück. Oder sind 70 Prozent glücklich. Jedenfalls liegt der Durchschnitt der Antworten bei 7,0. Das ist genauso hoch wie im Vorjahr. Trotzdem hat sich Deutschland im internationalen Vergleich verbessert - auf Kosten der anderen. In vielen Europäischen Ländern sind die Menschen in jüngster Vergangenheit deutlich weniger glücklich als früher - was verständlich scheint, sieht man diese Unglücksraben, die in Spanien vor einem Arbeitsamt anstehen. Quelle: dpa
Aber auch innerhalb Deutschlands gibt es Unterschiede: Den letzten Platz der 19 Regionen, in die der Glücksatlas das Land unterteilt, belegt Brandenburg. 6,52 Glückspunkte erreichen die Brandenburger, zum ersten Mal seit 2004 ist diese Wert wieder gefallen. In allen vier Unterkategorien Wohnsituation, Arbeit, Gesundheit und Einkommen schneidet das Bundesland schlecht ab. Dabei sieht es dort nicht überall so aus wie in dieser Ecke von Frankfurt an der Oder. Quelle: dpa
Land unter in Sachsen-Anhalt. Das Elbehochwasser ist sicher nicht der einzige Grund, dass das Bundesland auf dem vorletzten Platz des Glücksrankings steht. Objektive Schwächen, die die Zufriedenheit mindern, liegen vor allem in einer hohen Arbeitslosenquote (11,5 Prozent), einem geringen Lohnniveau und einem hohen Anteil pflegebedürftiger Personen. Quelle: dpa
Auch in Thüringen geht es eher trist zu - obwohl das Land mit einem Wert von 6,66 Punkten schon auf dem Glücksweg ist: 2011 war Thüringen noch Schlusslicht des Regionenrankings, jetzt Platz 17. Quelle: dpa
Vor allem niedrige Einkommen sorgen in Sachsen für Unzufriedenheit. Während das Bundesland insgesamt auf Platz 16 rangiert, ist es in der Kategorie Einkommen auf dem Vorletzten. Insgesamt zeigt sich eine deutliche Glücksdifferenz zwischen ost- und westdeutschen Regionen. Dem positiven Anteil vergleichsweise vieler zwar nicht junger aber sehr gesunder Menschen steht im Osten der überdurchschnittlich hohe Anteil an pflegebedürftigen Personen entgegen. Quelle: dpa
In Mecklenburg-Vorpommern lebt es sich gut - klar, wenn es dort überall so aussieht wie in der Altstadt von Greifswald. Was die Wohnsituation angeht, sind die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern ziemlich glücklich. In dieser Kategorie stehen sie auf dem fünften Platz. Ein überdurchschnittlich hoher Anteil an pflegebedürftigen Personen, die hohe Arbeitslosigkeit und die sehr niedrigen Einkommen schmählern das Glück aber: Insgesamt steht das Bundesland Rang 15. Quelle: AP

Viertens schließlich: Anstrengungslos sich vermehrendes (auch dynastisch vererbbares) Kapitalvermögen untergräbt das Fundament der bürgerlich eingerichteten Marktgesellschaft, indem es das meritokratische Prinzip (die Honorierung von Leistung) außer Kraft setzt, das Liberalen seit 200 Jahren als Legitimitätsgrund von Ungleichheit dient. Erst seit Piketty bezweifelt wirklich niemand mehr ernsthaft, dass "Arbeitnehmereinkommen hinter Kapitaleinkünften" zurückbleiben (Paul Nolte)..., erst seit sich alle einig darin sind, dass der "Umschlag von einer Leistungs- in eine Besitzgesellschaft" droht (Steffen Mau)..., erst seit allgemein anerkannt ist, dass es sich bei modernen Finanzmärkten um "asymmetrische soziale Strukturen", mithin um das Gegenteil von "meritokratischen Institutionen" handelt (Sighard Neckel)..., erst seit auch der letzte Neoklassiker unter den Ökonomen endlich begriffen hat, dass kapitalistische Märkte kein Synonym für Austauschprozesse, sondern Agenturen der Vermögens- und Machtkonzentration, der Gewinnerzielung und -vermehrung sind..., kurz: erst seit der ungebremste Marktliberalismus mit der Produktion von Ungleichheit die liberale Ordnung selbst in Frage stellt, hat der Begriff der "Ungleichheit" sein denunziatorisches Potenzial verloren.

In einem besonders starken Beitrag des Bandes spricht der Frankfurter Soziologe Sighard Neckel in diesem Zusammenhang sehr prägnant von einer Entzweiung der Gesellschaft, genauer: von der "Entmarktlichung" der Privilegierten (Rentiers, Erben) und der "Vermarktlichung" der Lebenslage breiter Bevölkerungsschichten (als Anbieter ihrer Arbeitskraft). Wer bis hierhin noch bezweifelt hat, ob ein Roman aus dem 19. Jahrhundert sein Interesse zu wecken vermag, dem sei es an dieser Stelle noch einmal gesagt: Neckel und Zola liegen 130 Jahre auseinander und drücken sich auch ganz verschieden aus. Aber so unglaublich es auch klingt: Sie sprechen über das gleiche Thema - und dieselbe Sprache. 

*(Un-)Gerechte (Un-)Gleichheiten, hg. von Steffen Mau und Nadine M. Schöneck, edition suhrkamp, 16 Euro

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