




Wenn man den französischen Ökonomen Thomas Piketty und das Ergebnis seiner Forschungen über materielle Ungleichheit verstehen möchte, kann man sich durch seine 800 Seiten starke Abhandlung über "Das Kapital im 21. Jahrhundert" (2014) arbeiten - oder aber den "Germinal" des französischen Schriftstellers Émile Zola aus dem Jahre 1885 lesen. Es gibt in Zolas Roman, der die Industrialisierung und die mit ihr einhergehenden sozialen Probleme seismografiert, eine wundervolle Szene, in der ein gewisser Grégoire eingeführt wird, "bekleidet mit einer weiten Barchentjacke, trotz seiner 60 Jahre noch rosig, unter seinem schneeweißen, lockigen Haar ein offenes, ehrliches, gutmütiges Gesicht" - ein zufriedener Rentier, der "im atemberaubenden Aufschwung von der so zaghaft und ängstlich gemachten Einlage seines Urgroßvaters" profitiert.
Was die Menschen vom Kapitalismus halten
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 16 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 75 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 8 Prozent
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 6 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 47 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 43 Prozent
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 5 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 59 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 29 Prozent
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 5 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 56 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 29 Prozent
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 13 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 57 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 19 Prozent
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 25 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 53 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 13 Prozent
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 11 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 58 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 18 Prozent
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 12 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 44 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 23 Prozent
Natürlich ist Grégoire von "tiefer Dankbarkeit für eine Geldanlage" erfüllt, "die die Familie seit einem Jahrhundert ohne ihr Zutun ernährte, in ihrem breiten Faulenzerbett wiegte und an ihrer Feinschmeckertafel mästete", schreibt Zola mit herrlichem Sarkasmus: Selbst in der Wirtschaftskrise lachte Gregoire immer noch, "bedauerte nichts", in tiefem Glauben an sichere Rendite und gesegnet mit fast schon religiöser Zuversicht: Der "Kurs würde schon wieder steigen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche".
Staatspleiten sind die Regel
Jahr der Unabhängigkeit: 1816
Anteil der Jahre in Umschuldung oder Staatsbankrott seit Unabhängigkeit* 1800: 32,5 Prozent
Zahl der Umschuldungen oder Staatsbankrotte: 7
*Die Berechnungen der Länder, die vor 1800 unabhängig wurden, sind von 1800-2006.
Quellen: Berechnungen von Flossbach und Vorndran (2012), sowie Standard & Poor's, Purcell und Kaufmann (1991), Reinhart, Rogoff und Savastano (2003) und darin zitierte Quellen.
Jahr der Unabhängigkeit: 1901
Anteil der Jahre in Umschuldung oder Staatsbankrott seit Unabhängigkeit 1800: 0,0 Prozent
Zahl der Umschuldungen oder Staatsbankrotte: keine
Jahr der Unabhängigkeit: 1822
Anteil der Jahre in Umschuldung oder Staatsbankrott seit Unabhängigkeit 1800: 25,2 Prozent
Zahl der Umschuldungen oder Staatsbankrotte: 9
Jahr der Unabhängigkeit: 1618
Anteil der Jahre in Umschuldung oder Staatsbankrott seit Unabhängigkeit 1800: 13 Prozent
Zahl der Umschuldungen oder Staatsbankrotte: 8
Jahr der Unabhängigkeit: 1917
Anteil der Jahre in Umschuldung oder Staatsbankrott seit Unabhängigkeit 1800: 0,0 Prozent
Zahl der Umschuldungen oder Staatsbankrotte: keine
Jahr der Unabhängigkeit: 943
Anteil der Jahre in Umschuldung oder Staatsbankrott seit Unabhängigkeit 1800: 0,0 Prozent
Zahl der Umschuldungen oder Staatsbankrotte: 8
Jahr der Unabhängigkeit: 1829
Anteil der Jahre in Umschuldung oder Staatsbankrott seit 1800: 50,6 Prozent
Zahl der Umschuldungen oder Staatsbankrotte: 5
Jahr der Unabhängigkeit: 1066
Anteil der Jahre in Umschuldung oder Staatsbankrott seit Unabhängigkeit 1800: 0,0 Prozent
Zahl der Umschuldungen oder Staatsbankrotte: keine
Jahr der Unabhängigkeit: 1569
Anteil der Jahre in Umschuldung oder Staatsbankrott seit Unabhängigkeit 1800: 3,4 Prozent
Zahl der Umschuldungen oder Staatsbankrotte: 1
Jahr der Unabhängigkeit: 1819
Anteil der Jahre in Umschuldung oder Staatsbankrott seit Unabhängigkeit 1800: 36,2 Prozent
Zahl der Umschuldungen oder Staatsbankrotte: 7
Jahr der Unabhängigkeit: 1821
Anteil der Jahre in Umschuldung oder Staatsbankrott seit Unabhängigkeit 1800: 44,6 Prozent
Zahl der Umschuldungen oder Staatsbankrotte: 8
Jahr der Unabhängigkeit: 1581
Anteil der Jahre in Umschuldung oder Staatsbankrott seit Unabhängigkeit 1800: 6,3 Prozent
Zahl der Umschuldungen oder Staatsbankrotte: 1
Jahr der Unabhängigkeit: 1581
Anteil der Jahre in Umschuldung oder Staatsbankrott seit Unabhängigkeit 1800: 0,0 Prozent
Zahl der Umschuldungen oder Staatsbankrotte: keine
Jahr der Unabhängigkeit: 1282
Anteil der Jahre in Umschuldung oder Staatsbankrott seit Unabhängigkeit 1800: 17,4 Prozent
Zahl der Umschuldungen oder Staatsbankrotte: 7
Jahr der Unabhängigkeit: 1139
Anteil der Jahre in Umschuldung oder Staatsbankrott seit 1800: 10,6 Prozent
Zahl der Umschuldungen oder Staatsbankrotte: 3
Jahr der Unabhängigkeit: 1457
Anteil der Jahre in Umschuldung oder Staatsbankrott seit Unabhängigkeit 1800: 39,1 Prozent
Zahl der Umschuldungen oder Staatsbankrotte: 5
Jahr der Unabhängigkeit: 1523
Anteil der Jahre in Umschuldung oder Staatsbankrott seit Unabhängigkeit 1800: 0,0 Prozent
Zahl der Umschuldungen oder Staatsbankrotte: keine
Jahr der Unabhängigkeit: 1476
Anteil der Jahre in Umschuldung oder Staatsbankrott seit Unabhängigkeit 1800: 23,7 Prozent
Zahl der Umschuldungen oder Staatsbankrotte: 13
Jahr der Unabhängigkeit: 1453
Anteil der Jahre in Umschuldung oder Staatsbankrott seit Unabhängigkeit 1800: 15,5 Prozent
Zahl der Umschuldungen oder Staatsbankrotte: 6
Jahr der Unabhängigkeit: 1783
Anteil der Jahre in Umschuldung oder Staatsbankrott seit Unabhängigkeit 1800: 0,0 Prozent
Zahl der Umschuldungen oder Staatsbankrotte: keine
Jahr der Unabhängigkeit: 1830
Anteil der Jahre in Umschuldung oder Staatsbankrott seit Unabhängigkeit 1800: 38,4 Prozent
Zahl der Umschuldungen oder Staatsbankrotte: 10
Lässt sich das zentrale Forschungsergebnis von Thomas Piketty aus dem Jahre 2014 anschaulicher darstellen als in den Worten Zolas aus dem Jahre 1885? In den saturierten Volkswirtschaften des Westens, die seit vier Jahrzehnten dem Schwellenland-Tempo entwachsen sind, so Piketty, steigen die Vermögen schneller als die Arbeitseinkommen, weshalb sich die Wohlstandslücke zwischen Reich und Arm nicht nur vergrößert, sondern auch prinzipiell unschließbar ist. Mit dem Ergebnis, dass wir es mit einer neuen Klassengesellschaft zu tun haben, die in eine (kleine) Besitzklasse der Vermögenden und Rentiers einerseits und in eine (große) Erwerbsklasse der arbeitenden Leistungserbringer andererseits zerfällt (zu einer kritischen Besprechung von Pikettys Buch geht es hier, zu einer Kritik seiner Kritiker hier) An diesem Grundbefund wird auch von konservativ-liberaler Seite kaum noch gezweifelt. Zu erdrückend ist die Evidenz der Daten, zu peinlich klar die Beweislage: Laut der Nichtregierungsorganisation Oxfam besitzen die reichsten 85 Menschen der Welt so viel wie die ärmsten 3,5 Milliarden... Erbschaften werden in Deutschland mit durchschnittlich zwei Prozent besteuert, Kapitalerträge mit skandalös niedrigen 25 Prozent, Arbeitseinkommen hingegen mit bis zu 47 Prozent... Das reichste Zehntel aller Haushalte, das 1970 über 44 Prozent des gesamten Nettovermögens verfügte, besaß 2010 bereits 66 Prozent... Gleichzeitig verfügte die Hälfte aller Deutschen über gar kein Vermögen oder aber über ein negatives Vermögen (Schulden).
Besonders eindrücklich war das Material, dass das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) vor genau einem Jahr präsentierte: Nicht etwa in Griechenland mit seinen superreichen Reedern und krisengeschüttelten Einzelhändlern, Lehrern und Arbeitslosen ist die Ungleichheit der Vermögen besonders groß, sondern - in Deutschland. Mehr noch: In keinem anderen OECD-Land, von den USA einmal abgesehen, ist der Reichtum so ungleich verteilt wie hierzulande, so die DIW-Forscher. Während der so genannte Gini-Koeffizient, der auf einer Skala von 0 (niedrig) bis 1 (hoch) die Ungleichheit einer Gesellschaft misst, in Deutschland bei den Einkommen bei einem ziemlich konstant niedrigen Wert von 0,28 liegt, ergibt sich bei den Vermögen ein vollkommen anderes Bild: Hier liegt der Gini-Koeffizent bei stattlichen 0,78 und damit deutlich über den Werten für Frankreich (0,68), Italien (0,61) oder der Slowakei (0,45). Natürlich, auch diese Statistik ist nur so richtig wie die Kriterien, die ihr zugrunde liegen: Rechnete man etwa die Renten- und Pensionsansprüche mit ein, sähe die Lage wahrscheinlich schon etwas anders aus. Doch so oder so: Es schockiert, dass die Konzentration von Eigentum in der Hand weniger ausgerechnet im Mutterland der "Sozialen Marktwirtschaft" besonders ausgeprägt ist. (Eine ausführliche Analyse der materiellen Ungleichheit in Deutschland, ihrer volkswirtschaftlichen Nachteile sowie Vorschläge zu ihrer Behebung gibt es hier.
Formen der Ungleichheit sind nicht nur moralisch zweifelhaft
Nun ist in diesen Tagen ein schmaler Band mit dem Titel "(Un-)Gerechte (Un-)Gleichheiten"* erschienen, der auf 200 Seiten 20 kurze, leicht konsumierbare Aufsätze von 20 medienerprobten und schreibsicheren Soziologen, Ökonomen, Politologen und Publizisten versammelt - ein Büchlein, das den Anspruch erhebt, das Bindestrich-Thema "Gerechtigkeit" in seinen vielen (politischen) Facetten auf den aktuellen Stand der akademischen Dinge zu bringen und von links bis rechts durch zu deklinieren: Bildung, Markt, Sozialstaat, Geschlechter, Erbschaften, Migration, Demokratie.





Und - ist das Buch zu empfehlen? Nun, eine Antwort darauf ist gar nicht so leicht. Sagen wir es so: Als Einstieg ins Thema ist "(Un-)Gerechte (Un-)Gleichheiten", herausgegeben vom Bremer Soziologen Steffen Mau und seiner Kollegin Nadine M. Schöneck, unbedingt empfehlenswert; wer allerdings mit den Themen, Argumenten und Thesen von Autoren wie Heinz Bude, Hartmut Rosa, Sighard Neckel, Stephan Lessenich oder Jens Beckert einigermaßen vertraut ist, wer zwischen Leistungs-, Chancen- und Verteilungsgerechtigkeit zu unterscheiden weiß, die Pathologien des Bildungssystems kennt und schon mal über das Für und Wider von Erbschaftssteuern nachgedacht hat - für den ist das Buch nicht viel mehr als ein willkommenes Update und Refresh. Wobei - so ganz stimmt auch das nicht. Denn so wenig grundstürzend die meisten der versammelten Beiträge auch sind, so gering ihr Erkenntnis- und Neuigkeitswert im einzelnen auch sein mag - am Ende erweist sich das Ganze paradoxerweise viel größer die Summe seiner Teile. Mehr noch, es ist nach all den ideologisch aufgeladenen Debatten der vergangenen Jahre von einer kleinen Sensation zu berichten: Die Ungleichheitsforschung ist sich in vier wesentlichen Punkten einig - und hat sich damit gewissermaßen endlich selbst ein tragfähiges Fundament gelegt.
Was macht die EU gegen Jugendarbeitslosigkeit?
Für die sogenannte Jugendgarantie sind sechs Milliarden Euro bis zum Jahr 2020 einplant. Auf diese EU-Gelder können die Staaten zurückgreifen, um Menschen unter 25 Jahren innerhalb von vier Monaten zu einer Arbeit, einer Ausbildungsstelle oder einem Praktikum zu verhelfen. Die EU-Kommission setzt sich dafür ein, dass vorgesehene Fördergelder schneller zum Einsatz kommen und schon in den kommenden beiden Jahren verwendet werden. Allerdings steht die endgültige Einigung auf den Finanzrahmen 2014 bis 2020 der Union noch aus.
Schon 2012 hatten die EU-Staats- und Regierungschefs beschlossen, das Kapital der Hausbank der EU um 10 Milliarden Euro aufzustocken, um sie schlagkräftiger zu machen. EIB-Präsident Werner Hoyer hat nun im Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit eine Vorfinanzierung von EU-Initiativen angeboten. „Wir sollten überlegen, das vorzufinanzieren, um rasch Wirkung zu erzielen“, sagte Hoyer der „Welt am Sonntag“.
Die EU verstärkt ihren Kampf gegen die gefährliche Kreditklemme für Mittelständler in südeuropäischen Krisenländern. EU-Kommission und Europäische Investitionsbank (EIB) wollen dafür EU-Töpfe wie Regionalförderung und Forschungsrahmenprogramm mit Geldern der EIB kombinieren, um mehr Bürgschaften zu vergeben.
Erstens: Es ist wichtig, die Frage nach dem "richtigen Maß" von materieller Ungleichheit mit dem doppelten Blick auf die Machtkonzentration der oberen Einkommens- und Vermögenslagen und auf eine sich verfestigende Chancenlosigkeit von Unterschichten zu stellen - das erkennen sowohl vormalige Apologeten der Ungleichheitstoleranz (vulgo: Liberale) als auch castronostalgische Kapitalismuskritiker (vulgo: Sozialisten) an, die noch vor wenigen Jahren jedes Millionengehalt als Raub am ausgebeuteten Proletariat konfiszieren wollten. Konsens ist: Die materielle Ungleichheit in Industrieländern nimmt zu, die Hyperkonzentration von Vermögen sogar dramatische Züge an, womit im buchstäblichen Sinn die Frage nach der "Macht des Geldes", genauer: nach der Macht des demokratisch nicht legitimierten Finanzpublikums gestellt ist. Das ist ein wichtiger Punkt, denn es gab bis zuletzt marktreligiöse Forscher und Publizisten, die das Thema "Ungleichheit" unter Neid- und Linksverdacht gestellt, die Oligarchisierung der Finanzmärkte und organisierten Steuerbetrug marginalisiert oder aber die Signifikanz des Themas mit abwegigen Äpfel-Birnen-Vergleichen (die neue "globale Mittelschichten"!) schlicht geleugnet haben.
Zweitens: Bestimmte Formen vom "Ungleichheit" sind nicht nur moralisch zweifelhaft, sondern vor allem dysfunktional, weil sie sich selber reproduzieren, vervielfältigen und fortschreiben, das heißt: "Ungleichheit" hat eine statische und eine dynamische Seite - "mit gravierenden Folgeschäden für wirtschaftliches Handeln und soziale Integration", so Steffen Mau: Die elementarste Ungerechtigkeit liegt dann vor, wenn eine Gesellschaft durch ihre Versteinerung auffällig wird - wenn sozial unterprivilegierte Menschen so gut wie keine Perspektive mehr haben, ihrer sozialen Unterprivilegiertheit zu entkommen.
Ungleichheit schadet der Gesellschaft
Drittens: Das Wirtschaftswachstum in Industrieländern, erst recht die Gewinne von Konzernen (und die Spitzengehälter von Managern) haben sich von Lohnentwicklung und Wohlstandszuwachs der Arbeitnehmer abgekoppelt. Statt zu breiter Wohlstandsverteilung kommt es seit den 1970er Jahren zu Reichtumskonzentration: trickle up statt trickle down. Das kapitalistische Versprechen Ludwig Erhards ("Wohlstand für alle"), demzufolge "man sich durch harte Arbeit auch ein paar schöne Dinge leisten kann", schreibt der Soziologe Heinz Bude schlicht und ergreifend, "geht bei den einfachen Dienstleistungen,... beim Serviceproletariat... nicht auf." Die Folgen sind gravierend, zunächst einmal für die Unterschicht: psychische Erkrankungen, gesundheitliche Anfälligkeit, eine deutlich reduzierte Lebenserwartung. In den USA, weiß Bude zitierend zu berichten, leben Weiße mit hoher Schulbildung durchschnittlich zwölf Jahre länger als Schwarze mit geringen Schulkenntnissen. Und während sich in England in den vergangenen drei Jahrzehnten die Wirtschaftsleistung verdreifachte, hat sich zugleich die Anzahl der Haushalte, die ihre Wohnung im Winter nicht ausreichend heizen können, von 14 Prozent auf 33 Prozent erhöht.





Aber Ungleichheit schadet auch der Gesellschaft als Ganzes: Sie schwächt den sozialen Zusammenhalt, segregiert die Bevölkerung und befördert "soziale Schließungen" - eine Entwicklung, die kürzlich sogar die Rating-Agentur Standard & Poor's besorgte: Komme es zu einer anhaltenden Konzentration der Einkommen aus Arbeit und Kapital, so das Argument der Finanzmarktagentur, bleibe die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen aus. Und nicht nur das: Stagnierende Einkommen, das heißt Verschuldung zur Stabilisierung des Konsumniveaus, das heißt aufgeblähte Kreditmärkte das heißt Instabilität der Märkte das heißt Wachstumsschwäche das heißt Risikoplus und Renditeverlust... - kurz: Ungleichheit schadet Investoren.
Besonders beunruhigend aber ist "die klassenspezifische Exklusion von politischer Beteiligung", so der Politologe Wolfgang Merkel: "Es kann als empirisch gesicherte Faustregel gelten, dass mit sinkender Wahlbeteiligung die soziale (Selbst-)Exklusion bestimmter Gruppen steigt. Es ist nicht ein sozialstruktureller Querschnitt der Gesellschaft, der dann den Wahlurnen fernbleibt, sondern es sind die unteren Schichten, die aus der politischen Partizipation aussteigen."





Viertens schließlich: Anstrengungslos sich vermehrendes (auch dynastisch vererbbares) Kapitalvermögen untergräbt das Fundament der bürgerlich eingerichteten Marktgesellschaft, indem es das meritokratische Prinzip (die Honorierung von Leistung) außer Kraft setzt, das Liberalen seit 200 Jahren als Legitimitätsgrund von Ungleichheit dient. Erst seit Piketty bezweifelt wirklich niemand mehr ernsthaft, dass "Arbeitnehmereinkommen hinter Kapitaleinkünften" zurückbleiben (Paul Nolte)..., erst seit sich alle einig darin sind, dass der "Umschlag von einer Leistungs- in eine Besitzgesellschaft" droht (Steffen Mau)..., erst seit allgemein anerkannt ist, dass es sich bei modernen Finanzmärkten um "asymmetrische soziale Strukturen", mithin um das Gegenteil von "meritokratischen Institutionen" handelt (Sighard Neckel)..., erst seit auch der letzte Neoklassiker unter den Ökonomen endlich begriffen hat, dass kapitalistische Märkte kein Synonym für Austauschprozesse, sondern Agenturen der Vermögens- und Machtkonzentration, der Gewinnerzielung und -vermehrung sind..., kurz: erst seit der ungebremste Marktliberalismus mit der Produktion von Ungleichheit die liberale Ordnung selbst in Frage stellt, hat der Begriff der "Ungleichheit" sein denunziatorisches Potenzial verloren.
In einem besonders starken Beitrag des Bandes spricht der Frankfurter Soziologe Sighard Neckel in diesem Zusammenhang sehr prägnant von einer Entzweiung der Gesellschaft, genauer: von der "Entmarktlichung" der Privilegierten (Rentiers, Erben) und der "Vermarktlichung" der Lebenslage breiter Bevölkerungsschichten (als Anbieter ihrer Arbeitskraft). Wer bis hierhin noch bezweifelt hat, ob ein Roman aus dem 19. Jahrhundert sein Interesse zu wecken vermag, dem sei es an dieser Stelle noch einmal gesagt: Neckel und Zola liegen 130 Jahre auseinander und drücken sich auch ganz verschieden aus. Aber so unglaublich es auch klingt: Sie sprechen über das gleiche Thema - und dieselbe Sprache.
*(Un-)Gerechte (Un-)Gleichheiten, hg. von Steffen Mau und Nadine M. Schöneck, edition suhrkamp, 16 Euro