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Tauchsieder Die Lüge von den Segnungen des Marktes

Die wachsende Ungleichheit bedroht den Leistungswillen der liberalen Gesellschaft. Neuerdings sind sogar die Finanzmärkte besorgt, dass die Schere zwischen Reich und Arm immer weiter aufgeht.

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Die Geschichte der freien Marktwirtschaft
Metamorphose IIn der Frühphase des Kapitalismus werden aus Landarbeitern Handwerker: Webstuhl im 19. Jahrhundert in England. Quelle: imago / united archives international
Metamorphose IIMit der Industrialisierung werden aus Handwerkern Arbeiter: Produktion bei Krupp in Essen, 1914. Quelle: dpa
Metamorphose IIIIm Wissenskapitalismus werden Arbeiter zu Angestellten und Proletarier zu Konsumenten: Produktion von Solarzellen in Sachsen. Quelle: dpa
Ort der VerteilungsgerechtigkeitDen reibungslosen Tausch und die Abwesenheit von Betrug – das alles musste der Staat am Markt anfangs durchsetzen. Quelle: Gemeinfrei
Ort der KapitalkonzentrationDer Börsenticker rattert, die Märkte schnurren, solange der Staat ein wachsames Auge auf sie wirft Quelle: Library of Congress/ Thomas J. O'Halloran
Ort der WachstumsillusionWenn Staaten Banken kapitalisieren, sind das Banken, die Staaten kapitalisieren, um Banken zu kapitalisieren... Quelle: AP
Karl MarxFür ihn war der Unternehmer ein roher Kapitalist, ein Ausbeuter, der Arbeiter ihrer Freiheit beraubt. Quelle: dpa

Wenn man den französischen Ökonomen Thomas Piketty und das Ergebnis seiner Forschungen über materielle Ungleichheit verstehen möchte, kann man sich durch seine 800 Seiten starke Abhandlung über "Das Kapital im 21. Jahrhundert" (2014) arbeiten - oder aber den "Germinal" des französischen Schriftstellers Émile Zola aus dem Jahre 1885 lesen. Es gibt in Zolas Roman, der die Industrialisierung und die mit ihr einhergehenden sozialen Probleme seismografiert, eine wundervolle Szene, in der ein gewisser Grégoire eingeführt wird, "bekleidet mit einer weiten Barchentjacke, trotz seiner 60 Jahre noch rosig, unter seinem schneeweißen, lockigen Haar ein offenes, ehrliches, gutmütiges Gesicht" - ein zufriedener Rentier, der "im atemberaubenden Aufschwung von der so zaghaft und ängstlich gemachten Einlage seines Urgroßvaters" profitiert. 

Was die Menschen vom Kapitalismus halten

Natürlich ist Grégoire von "tiefer Dankbarkeit für eine Geldanlage" erfüllt, "die die Familie seit einem Jahrhundert ohne ihr Zutun ernährte, in ihrem breiten Faulenzerbett wiegte und an ihrer Feinschmeckertafel mästete", schreibt Zola mit herrlichem Sarkasmus: Selbst in der Wirtschaftskrise lachte Gregoire immer noch, "bedauerte nichts", in tiefem Glauben an sichere Rendite und gesegnet mit fast schon religiöser Zuversicht: Der "Kurs würde schon wieder steigen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche".

Staatspleiten sind die Regel

Lässt sich das zentrale Forschungsergebnis von Thomas Piketty aus dem Jahre 2014 anschaulicher darstellen als in den Worten Zolas aus dem Jahre 1885? In den saturierten Volkswirtschaften des Westens, die seit vier Jahrzehnten dem Schwellenland-Tempo entwachsen sind, so Piketty, steigen die Vermögen schneller als die Arbeitseinkommen, weshalb sich die Wohlstandslücke zwischen Reich und Arm nicht nur vergrößert, sondern auch prinzipiell unschließbar ist. Mit dem Ergebnis, dass wir es mit einer neuen Klassengesellschaft zu tun haben, die in eine (kleine) Besitzklasse der Vermögenden und Rentiers einerseits und in eine (große) Erwerbsklasse der arbeitenden Leistungserbringer andererseits zerfällt (zu einer kritischen Besprechung von Pikettys Buch geht es hier, zu einer Kritik seiner Kritiker hier) An diesem Grundbefund wird auch von konservativ-liberaler Seite kaum noch gezweifelt. Zu erdrückend ist die Evidenz der Daten, zu peinlich klar die Beweislage: Laut der Nichtregierungsorganisation Oxfam besitzen die reichsten 85 Menschen der Welt so viel wie die ärmsten 3,5 Milliarden... Erbschaften werden in Deutschland mit durchschnittlich zwei Prozent besteuert, Kapitalerträge mit skandalös niedrigen 25 Prozent, Arbeitseinkommen hingegen mit bis zu 47 Prozent... Das reichste Zehntel aller Haushalte, das 1970 über 44 Prozent des gesamten Nettovermögens verfügte, besaß 2010 bereits 66 Prozent... Gleichzeitig verfügte die Hälfte aller Deutschen über gar kein Vermögen oder aber über ein negatives Vermögen (Schulden).

Besonders eindrücklich war das Material, dass das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) vor genau einem Jahr präsentierte: Nicht etwa in Griechenland mit seinen superreichen Reedern und krisengeschüttelten Einzelhändlern, Lehrern und Arbeitslosen ist die Ungleichheit der Vermögen besonders groß, sondern - in Deutschland. Mehr noch: In keinem anderen OECD-Land, von den USA einmal abgesehen, ist der Reichtum so ungleich verteilt wie hierzulande, so die DIW-Forscher. Während der so genannte Gini-Koeffizient, der auf einer Skala von 0 (niedrig) bis 1 (hoch) die Ungleichheit einer Gesellschaft misst, in Deutschland bei den Einkommen bei einem ziemlich konstant niedrigen Wert von 0,28 liegt, ergibt sich bei den Vermögen ein vollkommen anderes Bild: Hier liegt der Gini-Koeffizent bei stattlichen 0,78 und damit deutlich über den Werten für Frankreich (0,68), Italien (0,61) oder der Slowakei (0,45). Natürlich, auch diese Statistik ist nur so richtig wie die Kriterien, die ihr zugrunde liegen: Rechnete man etwa die Renten- und Pensionsansprüche mit ein, sähe die Lage wahrscheinlich schon etwas anders aus. Doch so oder so: Es schockiert, dass die Konzentration von Eigentum in der Hand weniger ausgerechnet im Mutterland der "Sozialen Marktwirtschaft" besonders ausgeprägt ist. (Eine ausführliche Analyse der materiellen Ungleichheit in Deutschland, ihrer volkswirtschaftlichen Nachteile sowie Vorschläge zu ihrer Behebung gibt es hier.

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