Tauchsieder

Die Mission der Facebook-Kanzlerin

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Die Merkel-Union verzichtet aufs Erzählen

Die Merkel-Union verzichtet aufs Erzählen, weil für sie nur Umfragen (also Macht) zählt: Regenerative Energien, Mindestlohn, Ehe für alle, die Zukunft der E-Mobilität…: die Union lehnt den „gesellschaftlichen Wandel“ so lange ab, bis er sich ohne ihr Zutun durchgesetzt hat - und um sich sodann an seine Spitze zu stellen. Anspruchsloser und inhaltsleerer geht es nicht. Und erfolgreicher auch nicht. Was die Merkel-Union von allen anderen Parteien unterscheidet: Der Wähler weiß bei Linken, SPD, Grünen, FDP und AfD ziemlich genau, warum er ihnen seine Stimme versagt. Die CDU hingegen liefert bloß keinen Grund, sie zu wählen.

Warum das so ist? Weil sich Angela Merkel (und übrigens auch weite Teile des Journalismus), schon lange als eine Art Begleitagentur des Sich-Vollziehenden versteht: Ihr Interesse gilt der medial vermittelten Verdopplung einer Realität, die sie erzeugt und deren Teil sie zugleich ist. Eben darum geht es auch Facebook. Zuckerberg schafft die Bedingungen einer Kommunikation, die alles Zeitliche und Erzählerische zugunsten einer unendlichen Serie von Momenten tilgt - die mit hoher Geschwindigkeit um Augenblicke kreist, deren „Sinn“, „Wahrheit“ und „Bedeutung“ allein in der sofortigen Rückkopplung, in der instantanen Bezeugung anderer Nutzer besteht.

So wie ein sterbendes Eichhörnchen bei Facebook wichtiger sein kann als Menschen, die in Afrika verhungern, solange es augenblicklich mehr Nutzer rührt - so sehr können für Merkel Atomkraft und Automobil-Industrie Fluch oder Segen sein - je nachdem, was Emnid und Allensbach gerade melden. 

Facebook ist ein Synonym für die Egalisierung, Banalisierung und Totalisierung des Präsens im Namen des „Like“: Die Menschen werden arretiert im Taumel unaufhörlicher Gegenwart, sind pausenlos unterwegs von Augenblick zu Augenblick, schockstarr eingefroren im unverbundenen Nach- und Nebeneinander des objektiv Wichtigen und subjektiv Banalen. Im Präsentismus von Facebook kommt die Gegenwart ganz zu sich, weil Nutzer (und Wähler) in ihr nicht mehr den Anspruch entwickeln können, der Vergangenheit eine bessere Zukunft schuldig zu sein. Alles ist, im doppelten Wortsinn, gleich.

So wie wir durch das Posten und Archivieren von Sonnenuntergängen und Sushi-Abenden Autobiografien erzeugen, „die nie durch unser Hirn“ gingen (Roberto Simanowski), so wie wir unser Leben zu einer Kette von Momenten reihen, in denen das „Erlebte“ am Bewusstsein vorbei sogleich mitgeteilt wird - so sehr halten uns Merkel und der instantane Erregungs-Journalismus in der Unverbundenheit von nachrichtlichen Ereignissen gefangen, die keine Geschichte des Fortschritts mehr erzählen, sondern sich in der augenblicklich emotionalisierten Mitteilung ihrer selbst erschöpfen. 

Das Ergebnis ist eine Kultur der schulterzuckenden Bejahung, eine schwache Positivität des Einverstanden-Seins: Wir legen der Kanzlerin die Abwesenheit von politischem Ehrgeiz als philosophische Weisheit aus - und die Negation jedes Gestaltungsanspruchs als höhere Einsicht in die beschränkte Wirkkraft politischen Handelns. In krisenhaften Zeiten verlangt die Facebook-Gesellschaft von Merkel daher nicht die Lösung von Problemen, sondern ihre Bearbeitung: Es kommt für die Kanzlerin nicht darauf an, die Bankenkrise, das Euro-Desaster und die Flüchtlings-Problematik zu beenden, sondern laufend ihre Beherrschung anzudeuten.

In scheinbar ruhigen Zeiten hingegen, wie in diesen Wahlkampfwochen, kommt es für Merkel nur noch darauf an, dass sie die Facebook-Gesellschaft möglichst gar nicht behelligt - zum wechselseitigen Vorteil: Merkel weiß die Mehrheit der Deutschen in Desinteresse an politischen Richtungsentscheidungen hinter sich und wird die Abwesenheit von Werturteilen im Netz, und seien sie noch so rudimentär („Daumen hoch“) schon richtig deuten: als das Verschwinden von Politik. Als ihren Sieg. 

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