Tauchsieder

Corona – eine Zwischenbilanz

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Die moderne Corona-Politik nach Michel Focault

Es bietet sich in solchen Situationen immer an, die fantastischen Büchern von Michel Foucault aus dem Regal zu nehmen – und mit ihnen den Versuch zu unternehmen, die moderne Corona-Politik gedanklich zu ordnen. Dem französischen Philosophen standen bekanntlich (historische) Infektionskrankheiten und die Versuche ihrer Kontrolle Modell für Konstellationen und Operationsmodi von Macht. Dabei unterscheidet Foucault, stark vereinfacht gesagt, drei Modelle und Regierungsregime: das „Modell Lepra“ (Separierung, Ausschließung, Stigmatisierung, Verbannung), das „Modell Pest“ (sorgfältige Erfassung, lückenlose Kontrolle, Disziplinierung, Bannung) und das „Modell Pocken“ (Selbstinzuchtnahme, internalisierte Disziplin, individuelle Einpassung, gouvernementales Sich-Verhalten).

Legt man dieses Raster über moderne Corona-Politiken, so ergibt sich in etwa folgendes Bild: Absperrungen und Quarantänen wie im chinesischen Wuhan (und Italien), zu Ende gedacht auch Kriegsrechtslogiken wie in Frankreich, folgen dem Pestmodell: Die Gewalt wird in einer „bruchlosen Hierarchie ausgeübt“, schreibt Foucault, die „Beziehung jedes einzelnen zu seiner Krankheit und zu seinem Tod läuft über die Instanzen der Macht: ihre Registrierungen und ihre Entscheidungen“ und: „Der Raum erstarrt zu einem Netz von undurchlässigen Zellen. Jeder an seinem Platz gebunden. Wer sich rührt, riskiert sein Leben: Ansteckung oder Bestrafung.“

In Singapur, Taiwan, Südkorea und Ländern wie Deutschland hat man es dagegen mit zwei Varianten und Aspekten des Pocken-Modells zu tun: Im Fall der asiatischen Länder liegt der Schwerpunkt auf der statistischen Erfassung und datenbasierten Vermessung der Bevölkerung, auf der größtmöglichen „Durchsichtigkeit“ der Seuche. Und im Falle Deutschlands auf einem postautoritären Risikomanagement, das einer „in die Tiefe gehenden Organisation der Überwachungen „ entsagt, weil „liberale Demokratien“ mit der Durchsetzung eines strikten Pestregimes und der totalen Disziplinierung der Bevölkerung ihre eigenen Grundlagen zerstören würden.

Und was ist mit dem Lepra-Modell? Es hatte bereits einen ersten Auftritt in Großbritannien und den Niederlanden: Die Regierungen dort sprachen sich wochenlang für den konsequenten Schutz besonders „vulnerabler Risikogruppen“, vulgo: der Alten und Kranken aus, setzten auf eine zügige Durchseuchung der jüngeren Bevölkerung, das schnelle Erreichen einer „Herdenimmunität“ – und die schleunige Rückkehr zur Normalität: ohne „Shutdown“ und ökonomische Verwerfungen. Eine so riskante wie verführerische Strategie, deren Undurchführbarkeit sich allerdings schnell herausstellte: Alte lassen sich in der Moderne nicht wie Aussätzige im Mittelalter wegsperren und separieren. Oder etwa doch?

US-Präsident Donald Trump schwant bereits, dass „die Therapie sein Land teurer zu stehen kommt als die Krankheit“ – und man möchte sich die potenziellen Folgen dieses Satzes für die amerikanische Bevölkerung lieber nicht ausmalen. God bless Amercia! Aber auch in Deutschland melden sich bereits nach der ersten Woche des „Shutdowns“ Politiker wie der stellvertretende Unionsfraktionsvorsitzende Carsten Linnemann zu Wort: „Für die gesamte Volkswirtschaft und unseren Staat wird der Schaden nachhaltig und über Jahrzehnte nicht kompensierbar sein, wenn wir nicht spätestens nach Ostern die Wirtschaft wieder schrittweise hochfahren“, so Linnemann. Donnerwetter! Also habe halb Deutschland ein Interesse daran, das Land noch länger als eben nötig lahmzulegen. Was also will Linnemann uns sagen? Horst Seehofer ahnt es: Die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft „wieder herzustellen unter Inkaufnahme von vielen Toten“, stellt der Innenminister vorsichtshalber klar: „Nicht mit mir.“

Die entscheidende Frage ist nun: Lassen sich beide Risiken zugleich, das gesundheitliche und ökonomische, angemessen politisch bewirtschaften? Auf diese Frage antwortet nun das dritte medizinpolitische Corona-Dispositiv, das uns auf die Zeit nach dem Shutdown einschwört, uns einen Weg zurück in die Normalität verheißt: das „Hammer-und Tanz-Modell“. Sein Kern: Auf die sehr kurze „Phase des Hammers“ bis Ostern, in der es darum geht, die Zahl der Neuinfektionen so schnell wie möglich zu senken und das Gesundheitssystem vor dem Infarkt zu bewahren, folgt die sehr lange „Phase des Tanzes“: die sukzessive Rückkehr zur Normalität im Wege des Tastens und Justierens, der vorsichtigen Lockerungen und Wiederverschärfungen, eine Phase des Stop-and-Go und der der flexiblen Interventionen, in der es darum gehen wird, das schwankende Verhältnis von Neuinfektionen und Genesungen so auszusteuern, dass die Krankenhäuser zu keinem Zeitpunkt in den nächsten Monaten an ihre Belastbarkeitsgrenzen stoßen – bis die Herdenimmunität erreicht, ein Impfprogramm durchgeführt, ein heilendes Medikament entdeckt ist.

Kann das gelingen? Möglich wäre es unter fünf Voraussetzungen: die konsequente Isolierung von Infizierten, das Tragen von OP-Masken im Alltag, die massive Ausweitung von Testkapazitäten, womöglich auch eine Aufrechterhaltung von Grenzkontrollen – und ganz unbedingt ein Lepra-Regime für die Alten. Nutzt die Politik die Zeit also bis Ostern – um die Fragen des Wollens, Sollens und Könnens zu klären – oder nutzt sie sie nicht? Derzeit sieht es danach aus als verstriche sie weitgehend ungenutzt. Aber nur wenn die Ausgangsbeschränkungen die „Basisreproduktionszahl“ unter eins drücken (negatives exponentielles Wachstum...), nur wenn viel Schutzmaterial beschafft wird (zumal für die Altenpfleger, die keine Infektionen in streng separierte Altenheime tragen dürfen), nur mit vielen, vielen Tests und nur, wenn die Alten nicht jahrelang der körperlichen Nähe und Zuwendung entbehren müssen, ist ein Ende des „Shutdowns“ ab Mitte April überhaupt denkbar.

Wir hätten es dann, in Anlehnung an Michel Foucault, mit der heiklen Kombination eines liberalen Pocken- und ausschließenden Lepra-Regimes zu tun, oder anders gesagt: mit einer Belastungsprobe, die uns noch sehr lange beschäftigen wird – medizinpolitisch, ökonomisch und auch ethisch. Wie wir diese Krise bewältigt haben werden,, werden wir vermutlich frühestens in anderthalb Jahren wissen. Dann wird „Corona“ kein medizinpolitisches Dispositiv mehr erfordern, sich statt dessen zu einer „großen Erzählung“ verdichten, zu einem Narrativ der Deutschen gerinnen, das die Gesellschaft geprägt haben wird und noch lange prägend wirken wird – so oder so.

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