Tauchsieder

Baerbock, Laschet, Scholz: Keiner wird gewinnen

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Die Parteiräson wiegt schwerer als die Siegchance

Fangen wir an mit dem Personal und den Parteien: Union und Grüne haben sich für schwache Spitzenkandidaten entschieden; in beiden Fällen wog die Parteiräson schwerer als die Siegchance bei den Wählern. Die SPD wiederum hat es geschafft, den chancenreichsten Sozialdemokraten aufs Schild zu heben, wird aber von zwei Vorsitzenden geführt, die fürchterlich arm an Charisma sind und auf beispielhafte Weise eine Partei des 20. Jahrhundert repräsentieren. Die Folge: Viele Deutsche würden schon gern Scholz im Kanzleramt sehen, wollen aber um Himmels willen nicht von der SPD(-Linken) regiert werden. Viele Deutsche hätten nichts gegen kräftig mitregierende Grüne einzuwenden, aber bitteschön nicht unter einer Regierungschefin Baerbock, von der sie annehmen, sie sei, nunja: grün hinter den Ohren. Und viele Deutsche wissen sich gewohnheitsmäßig bei der Union gut aufgehoben, weil auch Laschet möglichst gar keinen Gestaltungsanspruch erkennen lässt, ahnen aber zugleich, dass ein „muddling through“ in Zeiten der Zäsuren und Umbrüche (Klimawandel, E-Mobilität, China-Politik etc.) zu wenig sein könnte.

Fahren wir fort mit den Koalitionen und den Designs: Viele in der CDU halten es noch immer mit Friedrich Merz, einem „scharfen Profil“ und einer „bürgerlichen Politik“: Sie wollen nicht gendern und mit ihrem BMW zur Arbeit fahren, sie wollen ihre Thüringer essen und finden, dass einer wie Maaßen oft gar nicht so falsch liegt. Viele in der FDP pflegen noch immer ihren trivialen Freiheitsbegriff und Marktglauben, ein affirmatives Verhältnis zum Gelderfolg und eine ruchlose Staatsfeindschaft, eine zwangszuversichtliche Can-Do-Mentalität, die kein Zweifel und kein Zögern duldet, auch einen kulturellen Ekel gegen alles Grüne: Verbotspartei, Besserwisser, Moralapostel! Viele Grüne wiederum lehnen noch immer das System und den Kapitalismus ab, die Reichen oder auch nur die Mehrheit der Normalos mit ihren Vorgärten, Garagen und Webergrills, sie halten sich für empfindsam und daher bevorzugt im Himmelreich des Großen und Ganzen auf, von wo aus es sich trefflich richten und moralisch rechten lässt über den Alltag (und Alltagsrassismus) der Durchschnittsdeutschen. Und viele Sozialdemokraten meinen die Deutschen immer noch als Opfer politisch adressieren zu müssen, als Benachteiligte und Anspruchsberechtigte, die betreut und beschützt und versorgt gehören – therapiert statt regiert.



Für die Parteien bedeutet das: Jede Koalition stellt in Hinsicht auf ihre idealtypische Klientel ein Risiko dar, das sich nur minimieren lässt, wenn man seine Kernanliegen in Koalitionsverhandlungen maximal durchsetzt. Es wird daher viele rote Linien geben in den Verhandlungen und wenige Kompromisse – und welche Parteien sich am Ende auf was auch immer einigen: Sie werden das Unvereinbare aufsummieren müssen, das Heterogene addieren, das Widerspruchsvolle saldieren. Zumal manche Bruchlinien nicht nur zwischen den Parteien und Milieus verlaufen, sondern auch zwischen Mentalitäten und Denkdesigns abseits der Parteigrenzen, etwa zwischen Stadt und Land: In Großstädten wie Berlin, Hamburg, München und Köln sind längst auch Christ- und Freidemokraten offen für Tempo 30 und autofreie Cities, für  bezahlbares Wohnen und eine massive Ausweitung des Fahrradverkehrs – sonst gäbe es für sie dort gar nichts mehr zu gewinnen.

Umgekehrt müssen SPD und Grüne Verständnis für die Normalität von Familien mit Zweitautos auf dem Land aufbringen, wollen sie sich dort nicht dem Vorwurf aussetzen, über die Köpfe der Normaldeutschen hinweg zu regieren. Und dann ist da natürlich noch die Bruchlinie zwischen Alt und Jung: 53 Prozent der Wahlberechtigten unter 30 optieren laut einer Forsa-Umfrage für Grüne und FDP – sie würden die Hassliebe, die beide Parteien einander entgegenbringen, womöglich gerne zugunsten eines Innovationsbündnisses überwinden: Klima plus Digitalisierung, Mobilitätswende plus Bürokratieabbau. Demgegenüber stehen 55 Prozent der Wahlberechtigten über 60, die der Union und SPD ihre Stimme geben: Sie wollen fraglos konservieren, was erreicht ist, fürchten um ihren Wohlstand – und treten auf die Veränderungsbremse.

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Und die Moral von der Geschicht’? Viel zu gewinnen gibt es nicht – schon gar nicht für den „Sieger“ oder die „Siegerin“ am Abend der Bundestagswahl. „Niemand“ weiß Punkt 18 Uhr, ob er Kanzlerin oder Kanzler wird. „Niemand“ weiß welche Koalition sich bilden wird. „Niemand“ weiß, welche Vereinbarungen verhandelt werden können. „Niemand“ weiß nur: eine Mehrheit der Unzufriedenen gleich gegen sich.

Mehr zum Thema: Der heiße Wahlkampf beginnt. Aber welche Partei verfügt über das wirtschaftspolitisch ambitionierteste Konzept und die klügsten Vorstöße für Deutschland? Fünf Topökonominnen und -ökonomen durchleuchten die Programme.

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