Geimpfte leisten daher auch gesamtgesellschaftlich den wichtigsten Beitrag zur Eindämmung der Pandemie. Dank der Geimpften genießen auch Nicht-Geimpfte wieder Freiheiten, die vor wenigen Monaten noch stark eingeschränkt waren. Das Risiko einer Impfung (inzwischen sind 4,6 Milliarden Dosen verimpft), ist für alle Erwachsenen (zumal ab 50) deutlich geringer als das Risiko einer Erkrankung. Das Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken, ist für Geimpfte deutlich geringer als für Nicht-Geimpfte. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Geimpfter infiziert und das Virus weiterträgt, ist deutlich geringer als die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Nicht-Geimpfter infiziert und das Virus weiterträgt usw. usf.
Die Politik täte gut daran, auf diese Fakten wieder und wieder hinzuweisen, womöglich soziale Gruppen zu identifizieren und zu adressieren, in denen die Impfbereitschaft besonders gering ist. Sie täte gut daran, „aufsuchende Impfungen“ anzubieten oder sich „Incentives“ zu überlegen (Bratwurst, Lotterie, 100 Euro) – und sie täte vor allem gut daran, eine Einigung mit öffentlichen Impfskeptikern über die Fakten, vor allem über den sozialen Kollateralnutzen einer Impfung zu erzielen, um sie vielleicht doch noch von einer Impfung überzeugen zu können: als Solidarbeitrag, for the common good. Das scheint schwierig genug. Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot zum Beispiel hat sich entschieden, für Logik und statistisches Elementarwissen nicht mehr empfänglich sein zu wollen. Sie freut sich, dass inzwischen die „vulnerablen Gruppen… weitgehend durchgeimpft“ sind und kurzschließt aus einem mutmaßlichen Impfdurchbruch in ihrer Yogaklasse zugleich, dass Impfen nicht die Lösung sein kann – und warum das alles? Offenbar nur, um ihre Angst vor einem Abbau der Demokratie in Deutschland düngen und den digitalen Impfpass in die Nähe von Kontrollregimen und „totalitären Kontexten“ rücken zu können, wie wir sie aus der „Sowjetunion“ und „China kennen“. Mit Verlaub: Das ist einer Wissenschaftlerin unwürdig.
Die Marginalisieren von Gründen für die derzeit relativ entspannte Pandemielage in Deutschland, aber eben auch in Großbritannien, Schweden, Israel (Impfen halt!), ändert indes nichts an den höchst widersprüchlichen Einschätzungen, die man mit Blick auf die nächsten Pandemiemonate gewinnen muss. Sie erfordern politische Wachsamkeit, nicht scheinpolitische Tatkraft, politische Feinsteuerung, nicht politischen Druck. Es ist möglich, dass der Impffortschritt dabei hilft, „dass die Mortalität und Morbidität von Covid-19 unter das Niveau allgemeiner Lebensrisiken“ fällt (Julian Nida-Rümelin). Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Wirksamkeit des Impfstoffes nachlässt und bereits im Dezember nurmehr Personen „vollständig geschützt“ sind, die sich dreimal haben spritzen lassen. Es ist wahrscheinlich, dass wir jetzt, nach der notfallmedizinischen Impfkampagne, tatsächlich lernen müssen, „mit dem Virus zu leben“, weil Corona sich nicht (wie etwa das Pockenvirus) wird ausrotten lassen, sondern auf Dauer zirkuliert und mutiert wie etwa das Grippevirus. Zugleich gilt: Das Virus freut sich über jeden Ungeimpften, in dem es sich verbreiten und mutieren kann. Die meisten Ungeimpften werden sich in den nächsten Monaten anstecken – das birgt Risiken für sie selbst und das Gesundheitssystem. Die Risiken von „Long Covid“ sind gewiss nicht kleiner als die Risiken einer Impfung.
Es wäre daher vermutlich am meisten gewonnen, wenn die internationale Impfkamapgne in den kommenden Monaten möglichst zügig ausgerollt werden könnte und die Mutationen des Virus dauernd unter guter Beobachtung stünden. Wenn wir uns in Deutschland abermals besonders auf den Schutz der „vulnerablen Gruppen“ konzentrierten, wenn wir Impfskeptiker zugleich identifizierten (von welchen Menschen und Gruppen reden wir eigentlich?), sie über die Kosten und Risiken ihrer Entscheidung aufklärten und zum Wohle aller auch motivierten, sich die Spritze doch noch setzen zu lassen. Einem gemeinsamen Leben unter laufend angepassten 4-5-G-Bedingungen – dreimal geimpft, zweimal geimpft, genesen (und geimpft) sowie (kostenpflichtig) durchgetestet – allerdings sollte dann vorerst nichts im Wege stehen.
Übrigens auch nicht mit Blick auf den Wahlkampf. Zerren Spahn und Söder mitten in einer ambigen Coronalage das Thema „faktische Impfpflicht“ weiter ins Rampenlicht, maximieren sie die Wahlchancen von FDP, AfD – und Freien Wählern, die in einigen Umfragen bereits drei bis vier Prozent erreichen. Das ist rein taktisch gedacht? Das darf kein Argument sein? Doch, doch, das muss es sogar. Denn an Parteien (und Medien), die Partikularinteressen prononcieren und schärfen statt sie zu bündeln und auszugleichen, mangelt es Deutschland im Wahlherbst 2021 gewiss nicht.
Mehr zum Thema: Der Ton wird dunkel, dräuend, drohend – die Regierenden verlieren die Geduld mit denen, die ihr Impfangebot ausschlagen. Auf der Strecke bleibt das liberale Denken. Und die Fähigkeit, moralisch zu diskutieren.