Tauchsieder

Ein Erdbeben - mit Folgen?

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Die Regierung ist dafür verantwortlich, dass die AfD den Diskurs bestimmt

Vor zwei Wochen bei ihrem Fernseh-Auftritt bei Anne Will mag mancher geschwankt haben, ob er Angela Merkel noch standhaft oder doch schon kleinkindisch-trotzköpfig finden soll. Heute ist sicher, dass Merkel ihre Wähler aus Stolz und Hybris an der Nase herumführt - und dass sie kalt wie eine Eiskönigin regiert. Es ist ein untrügliches Zeichen von Machtblindheit und Schwäche, dass ihre Sätze neuerdings so oft mit „Ich“ anfangen und die eigene Politik moralisch aufpumpen.

Es ist verlogen, an die Wertegemeinschaft der EU zu appellieren und die Probleme des Kontinents von der Türkei lösen zu lassen. Es ist opportunistisch, eine demokratisch gewählte (linke) Regierung in Griechenland erst wie Aussatz zu behandeln, um sie sechs Monate später zu charmieren, was das Zeug hält. Es ist höhnisch, Österreich wegen der Schließung der Balkan-Route anzugreifen und die eigene Bevölkerung gleichzeitig damit zu beruhigen, dass die Flüchtlingszahlen zurück gehen. Es ist vermessen, seine Politik mit dem Etikett des „humanitären Imperativs“ zu adeln - und die vor Mazedoniens Grenze gestrandeten Flüchtlinge seit Wochen ihrem Schicksal zu überlassen. FDP-Chef Christian Lindner hat recht mit seiner beispielhaften Kritik: „Eine Aufgabenteilung - manche in Europa arbeiten auf den Friedensnobelpreis hin und andere müssen sich die Hände schmutzig machen - funktioniert nicht.“



Schlimmer noch: Angela Merkel hat mit dem Positivismus des Gelingen-Müssens, attestiert von Grünen, Linken und Sozialdemokraten, den Raum systematisch eng gemacht für jeden seriösen Zweifel an ihrem Kurs.

Ihre Regierung vor allem ist dafür verantwortlich, dass die außerparlamentarische Opposition der AfD lange Wochen den politischen Diskurs im Land bestimmt hat (und erst seit zehn, zwölf Tagen ein wenig an Momentum zu verlieren scheint). Der Geschäftsführer der SPD, Thomas Oppermann, sagte es nach der Einigung auf das sogenannte Asylpaket II ganz offen: Die SPD trägt die Aussetzung des Familiennachzugs für einen Teil der Flüchtlinge eigentlich nicht mit, aber „niemand hätte verstanden“, so Oppermann, wenn die SPD hier nicht nachgegeben hätte: „Es war geboten, dass wir uns einigen“.

Oppermann hätte auch sagen können, dass die SPD ihre Idee von Integration dem politischen Druck von rechts opfert. Warum sonst war plötzlich „geboten“, was vor wenigen Wochen noch nicht „geboten“ war? SPD-Chef Sigmar Gabriel klebte sich vor ein paar Monaten noch (im Namen der Bild-Zeitung!) einen „Refugees welcome“-Button ans Revers und vermeldete, dass Deutschland nach einer Million Migranten in 2015 jedes Jahr weitere 500.000 spielend leicht verkraften könne. Deutschland sei „ein starkes und mitfühlendes Land“, so Gabriel damals, habe eine „exzellente, wirtschaftlich gute Situation.“ Davon ist heute keine Rede mehr.

Stattdessen eifern die Regierenden, den Angstschweiß auf der Stirn, mit jeder weiteren Maßnahme der AfD hinterher und nähern sich mit jedem weiteren „sicheren Herkunftsland“ und abgeschobenem Ausländer einer Rhetorik an, die noch vor wenigen Monaten allein den Rechtspopulisten vorbehalten war. „In NRW werden Frauen wie Freiwild verfolgt“, sagte Finanzstaatssekretär Jens Spahn nach der Silvesternacht in Köln, während Julia Klöckner, die stellvertretende CDU-Vorsitzende, plötzlich ein „Zeichen an Flüchtlinge“ verlangte, dass man nach Deutschland „nicht einfach so reingeschwappt kommt“.

Die AfD-Vorsitzende Frauke Petry wäre für so einen menschenverachtenden Satz zu recht an den Pranger gestellt worden

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