Tauchsieder

Drei Gründe, warum bei dieser Wahl noch alles offen ist

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Die Schwäche der Union

2. Die Union büßt ihre Rolle als Hegemon ein

Die Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz haben gezeigt: Eine parlamentarische Mehrheit von Parteien der Mitte ist auch ohne CDU und CSU möglich. Es ist das Ende einer Ära: weil die (grüne) Ampel als politische Option (zumindest bis Herbst) nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist. Es reicht daher nicht mehr, dass sich die Union dem Wahlvolk als quasipräsidiale Partei der Parteilosigkeit präsentiert, um sich je nach demoskopisch ermittelter Volksbefindlichkeit dem Zeitgeist zu unterwerfen und die Deutschen normativ zu entlasten.

Es reicht daher nicht mehr, sich in einer ortlosen „Mitte“ zu verwurzeln, sich als (a)politische Meta-Organisation zu empfehlen, die je nach Stimmungslage mit der einen oder anderen Gesinnungspartei koaliert, um deren ideologische Überspanntheiten zum Wohle des Landes zu mäßigen. Das doppelte Problem der Union: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sie, wie soll man sagen: negativ ausmobilisiert. Und Kanzlerkandidat Armin Laschet verkörpert nichts weniger als sein zentrales Versprechen: ein Modernisierungsjahrzehnt.

Markus Söder, der begnadete Opportunist, wittert diese Schwäche der Union. Er fürchtet die Zugkraft eines Winfried Kretschmann im vormals „bürgerlichen Lager“ und weiß um den postmateriellen Sinnhunger von Menschen, die selbst in einer „Jahrhundertkrise“ ökonomisch breit abgesichert sind; er adressiert als Ministerpräsident in der Pandemie konsequent das Orientierungs- und Sicherheitsbedürfnis der Deutschen und ist glasklar in seiner parteipolitischen Analyse: „Die Grünen sind für uns politisch und intellektuell der anspruchsvollste Wettbewerber. Darauf zu antworten mit Argumenten von vor dreißig Jahren zieht bei großen Teilen der Bevölkerung nicht mehr“, sagt er in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“, und: „Keiner will die alte Union aus den Neunzigerjahren zurück. Wir brauchen einen politischen New Deal statt Old School.“ Die CDU-Gremien haben sich am Ende bekanntlich gegen ihn entschieden – und damit womöglich die größte Chance liegen lassen, sich als parteipolitischer Hegemon in die Zwanzigerjahre zu retten. Selbst die SPD hat es geschafft, ihr zweitbestes Personal an die Partei zu delegieren – und am Ende einen Kanzlerkandidaten aufzustellen, der die besten Chancen hat, gewählt zu werden. Die Union hingegen...

3. Das Argument mangelnder Regierungserfahrung zieht nicht

Die Union hingegen vertraut auf einen Kandidaten, der den Deutschen mit Blick auf die Vergangenheit und Zukunft wenig zu bieten hat. Konkret heißt das, um es mal demokratietheoretisch zu fassen: Versteht man periodische Wahlen als institutionalisierte Form der Rechenschaftspflicht (Vergangenheit), erscheint Laschet den Deutschen vor allem als Corona-Irrlicht vom Dienst. Versteht man periodische Wahlen hingegen als Autorisierung zur Verwirklichung bestimmter Zwecke im öffentlichen Interesse (Zukunft), steht Laschet völlig blank da; die Union hat bezeichnenderweise bisher nicht mal ein Wahlprogramm. Allein auf die Gegenwart darf Laschet noch vage hoffen, konkret: auf eine halbwegs gelingende Impfkampagne im Sommer oder ein paar Urlaubswochen auf Mallorca, die er den Deutschen trotz seiner verkorksten Pandemiepolitik womöglich noch in Aussicht wird stellen können.



Aber selbst das wird vermutlich nicht reichen, um die politische Konkurrenz als Hegemon noch auf Distanz bringen zu können – dafür ist der „track record“ von Laschet, der CDU-geführten Bundesregierung und der nun ja: CDU-geführten EU-Kommission (Ursula von der Leyen) zu schwach – so schwach, dass mit Blick auf Wettbewerberin Annalena Baerbock auch das Argument der „Regierungserfahrung“ nicht ziehen wird. Niemand wird die Regierungserfahrung von Horst Seehofer oder Andreas Scheuer vermissen. Im Gegenteil. Das Beispiel der (regierungspolitisch zuvor unverbrauchten) Premierministerin Jacinda Ardern in Neuseeland zeigt, dass in Krisensituationen vor allem geistes-gegenwärtige Mitmenschlichkeit, Pragmatismus, Common-sense-Entschiedenheit und Zuversicht gefragt sind – jedenfalls kein altväterlicher Paternalismus, mit dem etwa Friedrich Merz der politischen Newcomerin zumindest „Fleiß“ attestiert – und schon gar keine altmaskulinen Maskendeals zwischen Geschäftskumpanen. Auch wären von Annalena Baerbock womöglich klarere Ansagen gegenüber Wladimir Putin oder Xi Jinping zu erwarten als von geschäftsmäßigen Außenpolitikern oder gar rückgratlosen MinisterpräsidentInnen wie Manuela Schwesig (SPD) und Michael Kretschmer (CDU) - wer hätte dagegen etwas einzuwenden? 

Die Union mag sich vorerst damit beruhigen, dass die meisten Deutschen starke Mitregierungsgrüne, nicht aber eine grüne Bundeskanzlerin wünschen: Keine Experimente. Aber sicher ist selbst das nicht mehr – sofern Baerbock sich in den nächsten Monaten jeder Liebäugelei in Richtung Grün-Rot-Rot enthält. Statt dessen wird die Union aufpassen müssen, das nicht auch noch eine Wechselstimmung aufkommt: Die Sehnsucht nach einem anderen Stil und einem anderen Sound, nach einer „Ästhetisierung“ der Politik und einer „Unverbrauchtheit“ des politischen Auftritts, die Sehnsucht nach einer Art „grün-gelben“ Innovationsoffensive (Klimawandel und Digitalisierung, Verkehrswende und Bürokratieabbau, staatliche Vorgaben und marktliche Lösungen), schließlich die Sehnsucht nach einer postmodernen Demokratie, in der nicht Partikularinteressen und Egoismen um eine Mehrheit unter Geldbeutelwählern buhlen, sondern die auf Deliberation und gemeinsame Beratschlagung im allgemeinen Interesse (und zwecks höherer Ziele) wert legt – diese Sehnsucht ist groß, nicht zuletzt in vielen Redaktionsstuben, die die Kanzlerkandidatur von Annalena Baerbock mit der Herausgabe erster Fanzine begrüßt haben.

Fazit: Das Rennen ums Kanzleramt ist in genau dieser politischen Lage und Stimmung und mit genau diesem Personaltableau restlos offen – übrigens auch aus demokratiemathematischen Gründen: Nimmt man im Rückgriff auf den Marquis de Condorcet (1743 – 1794) für einen Moment an, dass die Präferenzen der Wähler sich recht gleichmäßig auf die drei Kandidaten verteilen, ergibt sich keine Mehrheit für niemanden – kann keine Option identifiziert werden, die von den meisten Stimmenden bevorzugt wird.

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Stattdessen ergibt sich nach dem „Condorcet-Paradox“ das folgende idealtypische Bild: 1. Ein älterer Mittelständler, Familienvater und passionierter Radfahrer aus Karlsruhe wünscht sich: Laschet vor Baerbock vor Scholz. 2. Eine junge Agenturmitarbeiterin, Veganerin, alleinstehend, aus Berlin wünscht sich: Baerbock vor Scholz vor Laschet. 3. Ein mittelalter Arbeitnehmer, Betriebsrat und Grillfreund aus Braunschweig, wünscht sich: Scholz vor Laschet und Baerbock. Und das ist nur die Präferenzordnung mit Blick auf die Kandidaten. Bezieht man außerdem ein, dass auch die Präferenzordnung von möglichen Koalitionen und Konstellationen sehr unterschiedlich ist (Schwarz-Grün – Grün-Schwarz – Grün-Rot-Gelb – Schwarz-Gelb-Grün etc.), ergibt sich ein politisches Spielfeld, das den (politisch interessierten) Wähler zu einer taktisch-strategischen Wahl geradezu herausfordert: Das Risiko, am Ende nicht das zu bekommen, worauf man ausdrücklich spekuliert, ist bei der Bundestagswahl im Herbst womöglich so groß wie nie zuvor.

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