Tauchsieder
Wie positionieren sich Union, SPD und Grüne zur Situation in Afghanistan mit Blick auf die Wahl im September? Quelle: AP

Die Union – am Tiefpunkt?

In der Krise schlägt die „Stunde der Exekutive“? Von wegen. Die Deutschen erwarten von der CDU schon lange nicht mehr, verlässlich regiert zu werden – und der Wahlkampf-Albtraum für Armin Laschet spitzt sich zu.

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Fünf Wochen noch bis zur Bundestagswahl – und die beherrschende Frage ist: Wie tief kann die Armin-Laschet-CDU noch sinken? Die jüngsten Umfragen der Meinungsforschungsinstitute sehen die Union nurmehr bei 22 bis 23 Prozent, dicht gefolgt von der (so gut wie) unabhängigen Olaf-Scholz-Bewegung (21 Prozent) – und Bündnisgrünen, die sich dank des faktischen Ausstiegs Annalena Baerbocks aus dem inoffiziellen Rennen ums Kanzleramt rund um die Marke von 18 Prozent stabilisieren.

Und – was bedeutet das? Bleibt es bei einem Kopf-an-Kopf-Rennen? Läuft es am Ende gar auf einen Zweikampf zwischen Laschet und Scholz hinaus? Oder können, ganz im Gegenteil, die Grünen noch einmal punkten nach dem Afghanistan-Desaster der Großen Koalition, das so eng verbunden ist mit den Namen Heiko Maas (SPD), Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und Horst Seehofer (CSU)? Alles möglich.

Kann die Union noch einmal eine „sozialistische Gefahr“ herbeiraunen? Oder wird sie dann erst recht nach hinten durchgereicht, weil die Deutschen nurmehr lachen können über eine Partei, die die Gespenster von Saskia Esken und Kevin Kühnert umgehen lässt, während sie unverbrüchlich an Ministerinnen- und Minister-Darstellern wie Andreas Scheuer und Anja Karliczek, Jens Spahn und Julia Klöckner festhält? Alles möglich.

So oder so: Die Deutschen werden in der Restlaufzeit des Wahlkampfs Zeuge eines denkwürdig asymmetrischen Wettbewerbs.

Die Grünen tragen sich als Programmpartei und politische (Wechsel-)Stimmung zu Markte, der viele junge Herzen nicht gerade trotz, aber gewiss auch nicht (mehr) wegen ihrer Spitzenkandidatin zufliegen. Klima und Vorfahrt fürs Lastenfahrrad, fleischlos essen und E-Mobilität, urbaner Altbau und Landlust, Diversität und Stakeholder-Economy – wir erleben die politische Kommodifizierung eines Lebensgefühls und Mindsets: Wer es irgendwie gut meint mit sich und der Zukunft, der Natur und den Mitmenschen, wählt Grün.

Eine vormals als SPD firmierende Kampagne wiederum sucht ihren Erfolg als eine Art preußische „En Marche“ des rechten Maßes und der linken Mitte: Sie kappt ihre ideologischen Wurzeln und camoufliert alles Scharfprogrammatische, sie muted die eigene Parteispitze und kleidet „Bewegtheit“ paradoxerweise in ein radikal personalisiertes Stabilitätsversprechen: the one and only Olaf Scholz. Und siehe: Scholz rollt tatsächlich die rote Fahne ein und löst eine Bahnsteigkarte, um die CDU förmlich aus dem Kanzleramt zu putschen – bei allem Respekt für Currywurstfans und Vegetarier, Arbeiter und Aktionäre, Autofahrer und Radler, Kohlekumpel und Klimabewegte.

Und die Union? Nun: Sie punktet weder programmatisch noch personell, weder als Partei noch als Bewegung; sie hat nicht mal mehr Spurenelemente eines normativen Selbstanspruchs zu bieten – und Armin Laschet.

Weniger noch: Als Olaf Scholz sich vergangene Woche mit der Merkel-Raute auf dem Cover des Magazins der Süddeutschen Zeitung ablichten ließ, um sich selbst die „Sie kennen mich“-Krone aufzusetzen, kam das nicht nur einem unverhohlenen Griff nach dem Thron, sondern auch einer Selbstinvestitur mit den Insignien der frühen Merkel-Jahre gleich: Corona, Flut, Afghanistan – wir schaffen auch das, liebe Deutsche: Mit mir!



Es war ein Stich mitten ins Herz der Union. Sie steht jetzt nicht nur inhaltlich blank da im Vergleich zu SPD, Grünen, FDP, die allesamt irgendwas Konkretes zu bieten haben (Mindestlohn, Klimaministerium, Aktienrente). Sie steht jetzt nicht nur personell blank da, weil die Deutschen der Union bereits seit Monaten erfolglos signalisieren, sie würden Laschet eher nicht so gerne das Land anvertrauen. Sondern sie steht jetzt auch noch, im Bann zweier Krisen, die die nächsten Wochen nachrichtlich mitbestimmen werden – Afghanistan und vierte Coronawelle – als Partei da, der viele Deutsche keinesfalls das Mandat zu einem „Weiter so“ erteilen möchten.

Es ist geradezu grotesk, wenn Paul Ziemiak, der vielleicht schlechteste Generalsekretär in der Geschichte der CDU, ausgerechnet am Tiefpunkt aller Kompetenz, die die Deutschen den Regierenden noch zuschreiben, jetzt den „Keine-Experimente-Chanson“ aus den Fünfzigerjahren auflegt und twittert: „Eine CDU-geführte Bundesregierung ist kein Experiment, sondern eine Garantie. Eine Garantie für verlässliches Regieren.“

Verlässliches Regieren? Richtig daran ist: Die meisten Deutschen wählen gern das Bewährte, Stabile, Beständige. Sie wissen um den Veränderungsdruck (China! Digitalisierung! Klimawandel!) – und wählen, wer sie davon entlastet. Sie wollen sich, frei nach Arnold Gehlen, vom Staat „konsumieren lassen“, also die Versprechen seiner Institutionen – (Rechts-)Sicherheit, soziale Stabilität, generationsübergreifende Kontinuität – als „Grammatik“ eines freien, gelingenden Lebens genießen: Arbeit, Freizeit, Familie, Freunde, Reisen, Konsum.

Im Gegenzug versichern die Deutschen dem Staat, sich auf dem festen Boden der konsumierten Sicherheit aufs offene Meer zu wagen, sich also Veränderungen nicht zu verschließen. Spitzenpolitiker und -politikerinnen müssen deshalb nicht nur Wähler, sondern auch den Staat und seine Institutionen repräsentieren. Es reicht nicht, dass man ihnen Kompetenz zuschreibt; sie haben auch als „Staatsmänner“ und „Staatsfrauen“ zu bestehen.

Und das ist eigentliche Problem der Union in diesem Wahljahr: Sie wird, vielleicht zum ersten Mal in ihrer Geschichte, nicht mehr als „staatstragende Partei“ wahrgenommen, nicht mehr als Partei der gelingenden „Hintergrunderfüllung“, im Gegenteil: Die Welt drängt sich den Deutschen seit 2008 dauerkrisenhaft auf – und die Union schafft es schon lange nicht mehr, den Eindruck zu erwecken, sie sei den vielen kritischen Lagen politisch gewachsen.

Finanzkrise, Eurokrise, Klimakrise, Covidkrise, Flutkrise, Afghanistankrise – die Deutschen schreiben Angela Merkel, aber auch Laschet und Spahn keine Bearbeitungskompetenz (mehr) zu. Sie sind nicht so naiv, von den Regierenden Lösungen dieser Krisen zu erwarten, wohl aber erwarten sie den Anschein von Souveränität im Umgang mit ihnen. Dieser Anschein ist dahin – nicht zuletzt, weil Merkel, Laschet und Spahn permanent so tun, als könnten sie die Probleme lösen: Wir haben einen Plan, sagen sie – obwohl sie erkennbar keinen Plan haben. Obwohl ihnen vor lauter Versäumnissen nur noch „Alternativlosigkeiten“ die Regierungsgeschäfte führen: Bankbilanzen, Flüchtlingsströme, Inzidenzzahlen, Flutwellen und Talibanoffensiven. Und obwohl sie für all das permanent „Verantwortung“ bezeugen – aber nicht übernehmen.

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Vor diesem Hintergrund halten Baerbock und Scholz derzeit alle Trümpfe in der Hand: Warum sollten sich Wähler angesichts täglich protokollierter Versäumnisse, Managementfehler und Organisationsschwächen der großen Koalition und ihres mittelmäßigen Personals noch fürchten vor der mangelnden Regierungserfahrung Annalena Baerbocks – Wähler, die ohnehin den Veränderungsdruck erhöhen wollen? Und warum sollten Wähler das Land in multiplen Krisenlagen nicht dem anvertrauen, dem sie noch am ehesten Führungs- und Bearbeitungskompetenz zutrauen, also Olaf Scholz – Wähler, die von einem kompetenten „Staatsmann“ erwarten, dass bei allen Veränderungen klar ist, dass sich nicht allzu viel ändert, dass der Laden irgendwie (wieder) weiter läuft.

Anders gefragt: Gibt es eigentlich noch irgendetwas, das fünf Wochen vor der Wahl für die Union spricht?

Mehr zum Thema: Laschet schaltet auf Angriff. Er fordert eine Entlastung der Wirtschaft und mehr Tempo bei Großprojekten zum Beginn der heißen Wahlkampfphase.

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