Tauchsieder
Quelle: dpa

Die Union, die Anwältin der „wirtschaftlichen Vernunft“? Von wegen!

Armin Laschet. Das ist das Eine. Das Andere: Die Union bürgt nicht mehr für „Die Mitte“ und „wirtschaftliche Vernunft“. Sie führt einen fiktionalen Lagerwahlkampf. Und erscheint den Deutschen als Dagegen-Partei, die ihnen eine lebenswerte Zukunft verweigert.

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Eine Woche noch bis zur Bundestagswahl – genau der richtige Zeitpunkt für ein knappes, vorgezogenes Fazit. Die Positionen der Parteien dürften inzwischen auch mäßig interessierten Medienkonsumenten und Marktplatzbesuchern halbwegs geläufig sein. Die bewundernswerten Berliner Vortragskünstler standen nun vier Monate im Scheinwerferlicht. Sie waren grell ausgeleuchtet von Journalisten und Aktivisten, wurden scharf rezensiert von Komödianten und Passanten, leider allzu oft auch der Lächerlichkeit preisgegeben von Pöblern auf den billigen Rängen.

Es ist jetzt so ziemlich alles gesagt, was zu sagen wäre, wieder und wieder, in unendlichen Schleifen. „Verehrtes Publikum, wir sind soweit“, heißt es an dieser Stelle bei Bertolt Brecht, der politische Vorhang ist zu, wenn auch noch alle Fragen offen. Und so warten wir jetzt darauf, dass endlich Jörg Schönenborn, „der reitende Bote des Königs“, auf unseren Fernsehbildschirmen erscheint und uns darüber informiert, dass wir uns alle eigentlich vorher „einen anderen Schluss ausgedacht“ hatten.

Einen anderen Schluss? Läuft die so genannte „Union“ um CDU-Chef Armin Laschet der vorübergehend parteilosen Olaf-Scholz-Bewegung, formerly (and afterwards) known as SPD, auf der Zielgeraden doch noch den Rang ab – oder belohnt sie sich vollends für ihre Non-Performance mit 18,7 Prozent? Schleppen sich die bös’ verwundeten Grünen, von Annalena Baerbock selbstverzwergt zu einer klimalobbyistischen Klientelpartei und seit Monaten im Modus krass potemkinscher Wohllaune unterwegs, mit 13,4 Prozent ins Ziel?

Und weiter: Stürzt die jungenstolze FDP mit ihrem sachgrundlos Ministerämter verteilenden Naseweismeister Christian Lindner noch auf 8,1 Prozent, weil vielen Bürgern in der Wahlkabine der Schweiß ausbricht beim Gedanken an einen kompletten oder „verdünnten Linksrutsch“ (Markus Söder über die „Ampel“) – und die am Ende doch noch einen 27,3-Prozent-Comeback-Laschet ins Kanzleramt hieven? Oder passiert die Linke nur mit 4,8 Prozent das Ziel, weil „Mitte-Links-Wähler“ ihre Stimme am langen Ende nicht verschwendet wissen wollen und darauf hoffen, dass es vielleicht sogar noch für Rot-Grün reichen wird?

Abwarten. Wir vollziehen einen Registerwechsel, wechseln vom Spekulativen ins Sachpolitische und halten in zwölf schnellen Schritten fest, warum die Union den Deutschen nicht mehr als Anwältin der „wirtschaftlichen Vernunft“ erscheint – und auch deshalb so schlecht dasteht:

1. Die Deutschen lassen sich nicht mehr zwei politischen Lagern zuordnen und schon gar nicht als Zugehörige einer dieser beiden fiktionalen Lager mobilisieren. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die so genannten „bürgerlichen Parteien“ diese beiden Lager noch immer herbei halluzinieren, um primär ex negativo „fundamentale Unterschiede“ (Laschet) zu akzentuieren. Das Kernproblem der Union in diesem Wahlkampf – „Wir brauchen jetzt ein Thema!“ (Herbert Reul) – rührt ja gerade daher, dass sie in der Klima-, Steuer-, Geld-, Wirtschafts-, Lohn- und Wohnungspolitik keinen politischen Gegenentwurf anzubieten hat, dass sie namentlich in wirtschaftlichen Fragen vor den Deutschen dasteht wie eine nackte und reichlich in die Jahre gekommene Schaufensterpuppe.

2. Anders gesagt: Was vor allem fehlt in diesem Wahlkampf, ist eine ökonomische Mitte-rechts-Alternative zu Scholz’ und Baerbocks Mitte-links-Angebot. Mag sein, dass Markus Söder, der Großmeister des Opportunismus, das programmatisch schwarze Loch der Union zugekleistert hätte mit napoleonischen Gesten und demutsvollen Baumumarmungen, während Laschet es permanent ausstellt und repräsentiert. So oder so: An der Existenz des schwarzen Lochs ändert es nichts.

3. Die Mehrheit (zumal) der (jungen) Deutschen fühlt sich weder zwei „Lagern“, schon gar nicht zwei Volksparteien verbunden, sondern bewegt sich ideologisch ungebunden, situativ und grenzgängerisch zwischen stark ausdifferenzierten Sinus-Milieus (Traditionelle, Expeditive, Adaptiv-Pragmatische, Hedonisten, Prekäre, Liberal-Intellektuelle etc.) – und zwar mehrheitlich zur Mitte hin. Die prägende Kraft in diesem Land ist und bleibt die Zentripetalkraft, nicht die Zentrifugalkraft.

4. Drei schnelle Belege: 80 Prozent der Deutschen wählen Parteien der Mitte (oder gemäßigte „Sonstige“). Der Wahlkampf war auch diesmal, abgesehen von gelegentlichen Schmutzeleien einer zunehmend verzweifelten Union, zivil (wenn auch nicht niveauvoll). Und auch wenn die Programme von SPD, Grünen und Linken zu 90 Prozent deckungsgleich sind – das Entscheidende ist, dass die restlichen zehn Prozent dieser Schnittmenge ins Extrem neigen (Enteignungen, hohe Einkommen- und Vermögenssteuern etc.) – und damit ausreichen, um nicht nur von den meisten Deutschen, sondern auch den meisten Scholz- und Baerbock-Wählern rundheraus abgelehnt zu werden. Rot-Grün-Rot ist in jeder Umfrage verlässlich die denkbare Koalition, die sich die meisten Deutschen am wenigsten wünschen.

5. Die programmatische Dürre der Union hat einen ziemlich einfachen Grund: Die Gegenwart ist ihr enteilt. Niemand in der Union, am wenigsten ihr „Wirtschaftsexperte“ Friedrich Merz, weiß, was er sich im Präsens der Finanzkrisen und Schuldenberge, Niedrigzinsen und Kapitalkonzentrationen, Vermögensblasen und Plattformkonzerne, Steuerflucht und Datenausbeutung, des Bitcoin und der ökologischen Transformation, des Staatskapitalismus in China und des  Ressourcenwettlaufs, der explodierenden Großstadtmieten und sinkenden Eigentumsquoten unter einer „sozialen Marktwirtschaft“ vorzustellen hat. Was Ludwig Erhard zu alledem gesagt hätte? Vergesst es. Der gute Mann taugt nur noch zu Analogien von eher kurzer Reichweite. Die Erkenntnisgewinne fürs Heute sind mit dem idealisierten Blick zurück auf eine ehedem kleinteilige, engräumige, wettbewerblich organisierte Nationalökonomie gering.

6. Merz, Laschet und Lindner erzählen uns immer noch das Märchen von den Steuersenkungen, die sich in der Breite der Gesellschaft quasi von selbst bezahlt machen (trickle down), weil eine entfesselte Wirtschaft für entfesseltes Wachstum, sprich: Steuermehreinnahmen sorgt – irgendwann. Ganz ähnlich klingen Grüne, SPD und Brüssel, wenn sie uns Staatsinvestitionen als Segen verkaufen, die sich unbedingt rentieren – irgendwann. Keynesianismus hier, Steuersenkungskeynesianismus dort. Das sind keine Gegensätze. Sondern Zwillinge. Mit dem Unterschied, dass die Steuersenkungskeynesianer gleichzeitig (!) auf die Schuldenbremse treten wollen – was nicht funktionieren kann angesichts der anhaltenden ökonomischen Ausnahmesituation (seit der Finanzkrise), die inzwischen nicht mehr nur geldpolitisch, sondern auch fiskalpolitisch adressiert, also doppelt stabilisiert und verschärft wird: Irgendwo muss das Geld ja herkommen. (Also druckt mehr, liebe Notenbanker, sagen wiederum Grüne, SPD und Brüssel.)

7. Von Milton Friedman stammt der schöne Satz: „The great advances of civilization, whether in architecture or painting, in science or literature, in industry or agriculture have never come from centralized government.” Er stammt aus dem Jahr 1962. Und er dient Union und FDP noch heute als ideelle Basis, um dem politischen Kontrahenten immer dann „staatsautoritäres“ Denken zu unterstellen, wenn er gesetzgeberisch tätig werden möchte: Technologieoffenheit statt Grenzwerte! CO2-Preis statt Solardachpflicht! Tarifautonomie statt Mindestlohn! Raserei statt Tempolimit! Wohnungsbau statt Mietpreisdeckel! Das Problem der Union (und auch der FDP): Die Binarität dieses Denkens ist überholt – und der Wähler ahnt es inzwischen.

8. Die Klimaziele etwa sind hoch gesteckt und nur über anspruchsvolle Wege erreichbar; man wird sie nicht mit den Kompassen des 20. Jahrhunderts erreichen. Wem nützen fiatökonomische Traumtänzereien (Es werde eine „Wasserstoff-Wirtschaft“) – außer denen, die mit ihnen ihr Weltbild stabilisieren und mal wieder das Ingenium Schumpeterscher Unternehmer und deutscher Techniker gegen einen „übergriffigen Staat“ in Stellung bringen.

9. Worauf es daher stattdessen ankäme: Ein kluger Mix von „so viel Markt wie möglich“ und „so wenig Staat wie nötig“ – zumal die Kosten enorm sind und auch soziale Ausgleichskosten nach sich ziehen werden. „Kluger Mix“, um Himmels willen, das klingt verdächtig nach „Anmaßung von Wissen“ (Hayek). Stimmt schon. Aber die Zeit drängt nun mal. Zur Klarstellung: Es braucht um Himmel willen keinen „unternehmerischen Staat“ (à la Mariana Mazzucato), befreit von allen Geldsorgen (à la Stephanie Kelton), also eine Art ökonomisches Schlaraffenland für gutmeinende Kontrollfreaks, von dem vor allem die Grünen, auch weite Teile der SPD träumen. Wohl aber braucht es Rahmen und Grenzen, Steuerung und Koordinierung, um die eilige Transformation hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft bewältigen zu können. Wir haben es nun mal mit einer drängenden, daher vorsorglichen Gestaltungsaufgabe zu tun – und nicht mit einer (rein marktlichen Entwicklungen) nachsorgenden Verwaltungsaufgabe.

10. Das dreifache Problem der Union: Sie erweckt erstens – nach Jahrzehnten der politischen Prokrastination – auch heute noch den Eindruck, die multiplen Klima-, Energie- und Mobilitätswenden nicht wirklich politisch adressieren, ihnen maximal hinterher amtieren zu wollen. Sie baut zweitens gegenüber allen normativ anspruchsvolleren Wettbewerbern den Popanz der „Staatsgläubigkeit“ auf. Und sie verschanzt sich dabei drittens hinter der Tradition einer „sozialen Marktwirtschaft“, die erkennbar keinen „Wohlstand für alle“ mehr sicherstellt, also ihrerseits dringend ein Update benötigt. Im Ergebnis steht die Union da wie eine Dagegen-Partei – wie eine politische Organisation, die den Menschen eine lebenswerte Gegenwart und Zukunft verbieten will: Die Stadt bleibt bitteschön autogerecht. Die Mietpreise sind wie sie sind. Der Mindestlohn schadet der Wirtschaft. Wir bauen die besten Verbrenner. Und an der Atomkraft hätten wir besser festgehalten.

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11. Die Union wird sich in einer Woche diesen Aporien ihrer Wirtschaftspolitik stellen müssen, so oder so. Sie hat Deutschland einen fiktiven „Lagerwahlkampf“ aufgezwungen. Und sie bügelt im Namen einer „wirtschaftlichen Vernunft“, die sie unverfroren genug ist, sich jederzeit selbst zu attestieren („Die SPD stand immer auf der falschen Seite…“) Abziehbilder der Sozialen Marktwirtschaft auf, um die ökonomischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern. Das reicht nicht. Nicht für die Partei Ludwig Erhards. Nicht fürs Kanzleramt. Und schon gar nicht fürs Land.

12. Es stimmt schon, wir werden in Zukunft mehr denn je auf der Hut sein müssen vor beseelten Missionsökonomen in Ministerien, Kommissionen und Zentralbankhäusern – sie alle haben es denkbar leicht, produzieren immer neue Ideen und Programme zum Lobe der eigenen Institutionen, zum Wohle der Menschheit, zur Förderung des Guten. Umso mehr braucht es schleunigst eine Redefinition von Marktwirtschaft und Wettbewerb, Verantwortung und Eigentum, braucht es politökonomische Ideenentwickler, die die neuen Handlungsfelder nicht mit alten Theorien übermalt, sondern möglichst marktliberale Antworten auf Klimawandel und Digitalkapitalismus, Finanzkrisen und Investitionsstaus, Vermögenskonzentration und soziale Schieflagen entwirft und erprobt. Wenn es soweit ist, braucht die Union keine Lager-Feuer-Phrasen vom Lechtsrutsch- und Rinksherum mehr. Und könnte endlich wieder in die Politik einsteigen.

Mehr zum Thema: Das letzte WirtschaftsWoche-Entscheiderpanel vor der Bundestagswahl offenbart eine tiefe Sehnsucht deutscher Führungskräfte nach politischen Alternativen. Die Kanzlerkandidaten und -kandidatin überzeugen nicht (mehr). Am ehesten ruhen die Hoffnungen noch auf FDP-Chef Christian Lindner.

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