Aber hey, was soll’s – verschließen wir zur Abwechslung mal die Augen vor der Flüchtlingskrise und vergessen wir alles, wofür wir uns noch vor vier Jahren erwärmt haben: für offene Grenzen, eine Willkommenskultur – und Syrer, die uns dabei helfen, den Fachkräftemangel zu beheben. Armin Laschet, der heute nach CDU-Vorsitz und Kanzlerschaft strebt, ist damals als braver Adjutant von Angela Merkel und innoffizieller Minister für Zuversichtszwang durch die Talk-Show-Republik getingelt, um alle Kritiker des regierungsamtlichen Kontrollverlustes wie politische Rechtsausleger aussehen zu lassen. Und heute? Was wäre, wenn Laschet sich als neuer Frontrunner der CDU stark machte für die Aufnahme von 5000 Kindern und Jugendlichen, denen es seit vielen Monaten ersichtlich schlecht geht in griechischen Aufnahmelagern – in Lagern, deren schiere Existenz den Humanitätsstolz von damals als abstoßend hohle, narzisstische Gratisgeste entlarvt? Wenn also Laschet der Grünen-Chefin Annalena Baerbock gewissermaßen im Vorgriff auf eine schwarz-grüne Koalition beispringen und twittern würde: „5000 Menschen. Das sind wir unserem christlichen Menschenbild schuldig. Der Wertegemeinschaft Europa. Wir schaffen das!“ Es gehört nicht viel Fantasie dazu, um sich vorzustellen: Laschets Karriere in der Union wäre beendet.
Oder nehmen wir Horst Seehofer. Der damalige CSU-Chef hat Merkels Politik der offenen Grenzen im Oktober 2015 aus guten Gründen als „Kapitulation des Rechtsstaats vor der Realität“ interpretiert und eine Begrenzung der Zuwanderung angemahnt. Heute segnet er als Innenminister (!) im Namen der Wiederherstellung von Recht und Ordnung die Suspendierung von Recht und Ordnung ab: Was kümmert mich das geltende Asylrecht, wenn es gilt, das politische Zeichen zu setzen: Wir verstehen Europa künftig als Festung und wissen uns mit Blendgranaten und Tränengas vor denselben „illegalen Zuwanderern“ zu wehren, die wir als „Geflüchtete“ vor vier Jahren noch mitleidsvoll durchgewunken haben?
Oder nehmen wir Ursula von der Leyen, die EU-Kommissionspräsidentin. Sie plustert sich gegenüber dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan auf und droht: „Diejenigen, die die Einigkeit Europas auf die Probe stellen wollen, werden enttäuscht sein. Wir werden die Stellung halten und einig bleiben.“ Ist das noch Realitätsverlust – oder schon Wahn? Als scheiterte eine „europäische Lösung“ nicht seit Jahren, weil etwa Polen und Ungarn die Aufnahme von Migranten verweigern und weil deshalb auch Deutschland die Mittelmeer-Anrainer sehr weitgehend im Stich lässt – um nämlich nicht das Signal zu senden, man gebe eine „europäische Lösung“ auf. Die Situation in Idlib, die Verschärfung des Migrationsdrucks und die heikle Lage, in die sich der Autokrat Erdogan manövriert hat – auch das alles ist seit Monaten bekannt – und blieb von der deutschen Politik dreiaffengleich unbearbeitet.
Die Welt, wie sie wirklich ist? Seit ein paar Jahren gewinnt man nicht mehr den Eindruck, Deutschland erfasse sie. Sondern man gewinnt den Eindruck, Deutschland werde von ihr ereilt, überholt und abgehängt – permanent auf dem falschen Fuß erwischt. Es braucht Donald Trump, der Berlin darüber aufklärt, dass wir für unsere Sicherheit mehr Geld ausgeben müssen. Es braucht Wladimir Putin, der Berlin vor Augen führt, dass Krieg ein faktenschaffendes Mittel der Politik bleibt. Es braucht Xi Jinping, der Berlin verdeutlicht, dass der Wettbewerb der politökonomischen Systeme nicht etwa beendet ist, sondern gerade erst anfängt. Es braucht Emmanuel Macron, damit Berlin endlich anfängt, „Europa“ und die „NATO“ als Reformvorhaben und Gestaltungsaufgaben zu verstehen. Es braucht Greta Thunberg, um Berlin für die dramatischen Folgen des Klimawandels zu sensibilisieren. Es braucht VW-Chef Herbert Diess, damit Berlin sich in Richtung Verkehrs- und Mobilitätswende bewegt. Es braucht das Silicon Valley, damit Berlin auf den Trichter kommt, dass Freiheit und Kontrolle im Datenkapitalismus konvergieren und dass mit der Vermessung des Menschen auch die Demokratie herausgefordert ist. Es braucht Huawei, damit Berlin erfasst, dass die Freiheit der Märkte und des Handels an ideologische Grenzen stoßen kann. Und es braucht Corona, damit Berlin erkennt: Eine dezentrale, regionalisierte Produktionsstruktur, die nicht nur auf Outsourcing, Billigstandorte und (fragile) Lieferketten setzt, hat auch ihre Vorteile.
Kurzum: Deutschland hinterlässt permanent den Eindruck, der Welt nicht gewachsen zu sein, sich der Realität nicht zu stellen, im 21. Jahrhundert irgendeine auch nur halbwegs aktive Rolle spielen zu wollen. Die Regierungspolitiker wähnen sich systemischen Zwängen, globalen Kräften und mächtigen Entwicklungen ausgeliefert und mischen sich desto weniger in die waltende Geschichte ein, je stärker sie sich von ihr bedrängt sehen. Statt dessen ziehen sie sich zurück ins Mittelgebirge der falschen Moral, um die Welt, außerhalb von Raum und Zeit, nach Maßgabe des je augenblicklich Zeitgemäßen und Vorteilhaften zu bemeinen: permanent aufgeregt – und maximal leidenschaftslos. Max Weber nannte sie Windbeutel.