Tauchsieder
Peter Altmaiers „Nationale Industriestrategie 2030“ hat Fehler – stößt aber die Richtigen Debatten an. Quelle: imago images

Eine Lanze für Peter Altmaier

Wirtschaftsminister Peter Altmaier hat diese Woche eine „Nationale Industriestrategie 2030“ vorgelegt. In den Details liegt er falsch, vom Grundsatz her goldrichtig: Die Debatte über Systemkonkurrenz ist überfällig.

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Natürlich, die Reaktionen waren zu erwarten, auf die Reflexe der selbsternannten Wächter der Marktwirtschaft ist Verlass. Sie werfen Peter Altmaier planwirtschaftliche Methoden und einen „Griff in die ökonomische Mottenkiste“ vor, weil er „nationale Champions“ schaffen und ausländisches Kapital aussperren will. Sie rügen seinen „Gestaltungswahn“ und die politische Anmaßung von Wissen – und preisen das Hohelied des Wettbewerbs und der Konkurrenz, der Machtdiffusion und spontanen Ordnung. „Eine Industriepolitik nach chinesischem Vorbild ist keine Option“, sagt etwa der Mannheimer Volkswirtschaftler Hans Peter Grüner, als hätte das hierzulande irgendjemand irgendwann jemals im Sinn gehabt: Wie schräg muss der Blick auf die wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland und China sein, um so einen Vergleich anzustellen?

Es ist beinahe rührend, wie systemblind und weltfremd die Ökonomenzunft noch immer ihre hübsche kleine Traumwelt der Bäcker und Metzger imaginiert, die zum Wohlstand der Nationen an der Mehrung ihres eigenen Nutzens interessiert sind (Adam Smith); der global agierenden Wein- und Tuchhändler, die mit Blick auf komparative Kostenvorteile kluge Standortentscheidungen treffen (David Ricardo); der kleinen, mittelständischen Betriebe und selbstbestimmten Bürger, die unter der Obhut eines neutralen Rechtsstaates in munterer Konkurrenz zueinander stehen und aus geteilter Furcht vor der Machtkonzentration der Kartelle und Kollektive am „Wohlstand für alle“ arbeiten (Ludwig Erhard); schließlich der Märkte als einer Art heiligen Naturordnung, die allen Marktteilnehmern neutrale Informationen bereitstellt und maximale (Preis-)Transparenz verschafft und dessen Walten uns den Sinn und Unsinn von Entdeckungen und Innovationen offenbart (Friedrich August von Hayek).

Das Problem ist: Diese Welt gibt es nicht mehr, oder genauer: Als Ideal hat diese Welt schon immer nur in den Köpfen unhistorisch denkender Ökonomen existiert – und in der Praxis sind wir dieser Welt ferner denn je.

Erstens: Die Netzwerkeffekte der digitalen Plattformökonomie begünstigen eine „the-winner-takes-it-all“-Wirtschaft. Physische Güter (Brötchen und Würstchen) sind nur in begrenzter Zahl auf begrenztem Raum für eine begrenzte Kundschaft zu produzieren und vermarkten. Etwa Facebook und Netflix können dagegen ihre digitalen Güter (Nachrichten, Fotos, Filme), einmal produziert, in unendlicher Vervielfältigung weltweit potenziell an alle Menschen verkaufen. Damit ändert sich das, was wir unter Wirtschaften verstehen, grundstürzend.

Zweitens: Der Traum von einem „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama), in der der westliche Liberalismus und Kapitalismus nur noch sein Siegen optimiert, ist geplatzt – politisch, aber auch wirtschaftlich. Wir erleben keinesfalls eine flach globalisierte Welt, in der alle Länder durch die Teilnahme am Freihandel ihre Entwicklungspotenziale heben. Vielmehr sehen wir die Heraufkunft einer sich tripolar formierenden und ihre Interessen teils beinhart durchsetzenden Welt. Europa steht mit einer Venture-kapitalistischen USA und einem staatskapitalistischen China in einem hochinteressanten Systemwettbewerb – vor allem auch auf rohstoffreichen Drittmärkten wie in Lateinamerika und Afrika. In diesem Wettbewerb geht es einerseits um Technologieführerschaft, andererseits um diplomatisch-außenwirtschaftliche Siege in punkto Ressourcenkonkurrenz.

Das Detail ist falsch, der Grundsatz goldrichtig

Drittens: Der Preis aller Preise (der Zins) ist spätestens seit der Finanzkrise 2008 ff. so maßlos verzerrt, dass von einer „Marktwirtschaft“ in Europa längst nicht mehr gesprochen werden kann. Die Notenbanken verhindern notwendige Bereinigungskrisen und Politiker setzen das Haftungsprinzip außer Kraft – zu den Folgen gehören Preisverzerrungen, unproduktive Investitionen, verschwenderisch hohe Staatsausgaben, Blasenbildung in Teilmärkten (Immobilien).

Auch sind die Finanzmärkte keine Transparenzquelle mehr für Kleinaktionäre, die sich an einem Unternehmen beteiligen, sondern Umschlagplätze zur systematischen Verschleierung von Geld als Kapital und Verbindlichkeit im Namen einer steuervermeidenden Clique von Superreichen – und von spekulationsjonglierenden Pensions- und Staatsfonds, die mit den gehebelten Zertifikaten und Derivaten ihrer Anleger (teils autoritäre) Staatsinteressen verwalten.

Vor diesem Hintergrund ist Peter Altmaiers „Nationalstrategie“ im Detail falsch – aber vom Grundsatz her goldrichtig: Er zettelt eine überfällige Debatte an. Im Detail falsch: Ein erster Fehler ist etwa das Vorhaben, den Industrieanteil an der Wertschöpfung auf 25 Prozent zu erhöhen. Das ist Planwirtschaft reinsten Wassers. Und sozialromantisch noch dazu: Altmaier denkt offenbar an übertariflich gut bezahlte Arbeiter in sauberen schwäbischen Fabriken – aber ob die entscheidenden Wertschöpfungsgewinne auch in Zukunft durch die Produktion von Maschinen, Autos oder Schrauben erzielt werden können (und nicht durch die Steuerung der Produktion), erscheint doch mehr als fraglich.

Als zweiten Fehler will Altmaier bestimmte Unternehmen „im nationalen wirtschaftlichen Interesse“ unter Schutz stellen – Thyssenkrupp etwa, aber nicht SAP – die Deutsche Bank vielleicht, aber nicht Wirecard? Das ist, so lapidar es formuliert wird, keine Strategie, sondern Willkür – und ein Schlag ins Gesicht für die großmittelständlerisch organisierte Wirtschaft in Deutschland. Dritter Fehler: Ganz gleich, ob im Falle von Huawei oder 50 Hertz, von Siemens/Alstom oder einem europäischen „KI-Airbus“ – raunende Hinweise auf „europäische Interessen“ und die „chinesische Gefahr“ dürfen nicht ablenken von Fakten und Versäumnissen: Siemens/Alstom wäre auf dem europäischen Markt tatsächlich ein Quasi-Monopolist – und die Beweislast liegt beim Wirtschaftsminister, dass es sich beim potenziellen Marktausschluss von Huawei nicht um ein verstecktes Konjunkturprogramm für Ericsson und Nokia handelt.

Gleichwohl: Das Politische, Strategische und Systemkonkurrente ist zurück auf der Weltbühne und die Zeit damit abgelaufen für eine Puppenstuben-Marktwirtschaft, wie sie Smith und Ricardo noch vorschweben durfte – für eine ordnungspolitische Reinheit, auf die noch Erhard und Hayek zu hoffen wagten. Gewiss: Kein Staat der Welt verzichtet darauf, seine Volkswirtschaft zu trainieren und zu trimmen, sei es mit Forschungsförderung und Dollarprivileg, mit Staatsmilliarden oder Schuldenkolonialismus. Aber eine Marktwirtschaft, auch und gerade im globalen Maßstab, ist darauf angewiesen, dass bei alledem Spielregeln gelten, an die sich alle halten. Ist das nicht der Fall, gewinnt nicht der Tüchtigste, sondern der Gerissenste – und der Markt geht vollends vor die Hunde. Peter Altmaier hat diese Diskussion angezettelt, mit gutmütigem Starrsinn, wohlgelaunter Dickköpfigkeit. Und das ist gut so.

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