
Wir haben uns in der vergangenen Woche die Politiker aller Parteien angesehen und dabei festgestellt: Alle berufen sich auf den "Vater der Sozialen Marktwirtschaft" – aber keiner tut es mit recht. Zuletzt hatten wir uns die Bundeskanzlerin angesehen, für die die soziale Marktwirtschaft vor allem deshalb ein verlässlicher "Kompass" ist, weil sie ihr den Weg mal hierhin, mal dorthin weist.
Wir erinnern uns: Vor zehn Jahren rief Merkel mit Ludwig Erhard die "zweiten Gründerjahre" aus, um mit Kopfpauschalen, Steuerradikalreformen und allerlei Deregulierungsversprechen "der schwersten wirtschaftlichen Krise seit 1949" den Kampf anzusagen. Seither verschärft sich dieselbe wirtschaftliche Krise zwar schleichend (Staatsschulden, Pensionslasten, Währungsstabilität), und doch optiert Merkel heute "im Zweifel für den Menschen", um mit Sigmar Gabriel höchst volksfürsorglich Mindestlöhne und Mütterrenten durchzuwinken.
Der Kuchenbäcker-Erhard
Im ersten Fall beruft sich Merkel auf den Kuchenbäcker-Erhard: "Es ist sehr viel leichter, jedem Einzelnen aus einem immer größer werdenden Kuchen ein größeres Stück zu gewähren, als einen Gewinn aus einer Auseinandersetzung um die Verteilung des Kuchens ziehen zu wollen." Im zweiten Fall beruft sich Merkel auf den Kuchenesser-Erhard: "Das ist der soziale Sinn der Marktwirtschaft, dass jeder wirtschaftliche Erfolg... dem Wohle des ganzen Volkes nutzbar gemacht wird und einer besseren Befriedigung des Konsums dient." Und, welche Merkel hat nun recht? Natürlich keine von beiden.
Drei Fakten zu Ludwig Erhard
Der 20. Juni 1948 (Währungsreform) und der 24. Juni 1948 (Freigabe der Industriepreise) sind so etwas wie inoffizielle Gründungsdaten der Bundesrepublik: Als Direktor der Verwaltung für Wirtschaft in der besetzten Bizone schuf Ludwig Erhard den (west-)deutschen Staat aus dem Geist der sozialen Marktwirtschaft, noch bevor er sich rechtlich konstituierte.
Die großen Wahlerfolge der CDU 1953 und 1957 waren zu großen Teilen das Verdienst von Ludwig Erhard. Als Wirtschaftsminister unter Kanzler Konrad Adenauer verband er den – internationalen – Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland höchst erfolgreich mit dem Leitbild der sozialen Marktwirtschaft.
Mit „Wohlstand für alle“ schrieb Ludwig Erhard 1957 sein ordnungspolitisches Manifest: Wohlstand durch Wettbewerb. Erwirtschaften vor Verteilen. Mündiger Bürger statt sozialer Untertan. In seinen Kanzlerjahren (1963–1966) hat er die neoliberale Theorie erfolglos mit dem Begriff einer arbeitsteilig „formierten Gesellschaft“ zu aktualisieren versucht.
Kuchenbäcker-Erhard hatte damals gut reden. Er war Wirtschaftsminister, Vizekanzler und Regierungschef, als es noch viele Kinder, keine Arbeitslosigkeit, eine junge Industrienation, keinen Globalisierungsdruck, viel mittelständische Konkurrenz und Wachstumsraten von vier bis sieben Prozent gab.
Das heißt, was immer Erhard dachte, dachte er sich - nationalökonomisch und weitgehend kleinwettbewerblich - in steigenden Linien, Zahlen und Kurven. Der Proletarier werde, Wettbewerb sei Dank, "bald nirgends mehr anzutreffen" sein, frohlockte Erhard 1957, und weil die Einkommen immer weiter stiegen und mit ihnen der Lebensstandard, sei es "auch nach sozialen Gesichtspunkten zumutbar, das Individuum in menschlicher Verantwortung zu halten, ja, es sogar stärker als bisher in diese Verantwortung zu stellen".
Individuelle Verantwortung
Wächst der Wohlstand durch mehr Markt, schrumpft nicht nur die Legitimität des Staates, ihn zu verteilen, so Erhard, sondern es wächst auch die individuelle Verantwortung, ihn zur Stärkung der "echten menschlichen Tugenden" einzusetzen: "Verantwortungsfreudigkeit, Nächsten- und Menschenliebe, das Verlangen nach Bewährung".
Wohlstand verpflichtet? Bereits drei Jahre später war Erhard davon selbst nicht mehr überzeugt: "Weniger arbeiten, besser leben, mehr verdienen, schneller zu Reichtum gelangen, über Steuern klagen, aber dem Staat Leistungen abverlangen - das alles kennzeichnet eine geistige Verirrung und Verwirrung, die nicht mehr zu überbieten ist."
Wie gesagt: Erhard hatte gut reden. Sein Ordnungsruf war triftig, weil es damals nach Jahren der Not für jeden Deutschen steil aufwärtsging. Weil Wohlstand, Wirtschaftswachstum und Fortschritt noch Synonyme waren und rauchende Schlote Sinnbilder des Glücks. Weil sich ein nivellierter Mittelstand herausbildete, in dem "Maß und Mitte" (Wilhelm Röpke) herrschten. Und weil die soziale Marktwirtschaft noch von den bürgerlichen (und religiösen) Voraussetzungen lebte, die sie selbst nicht garantieren kann: von Bescheidenheit, Sparsamkeit, Triebaufschub und Leistungswillen.
Anders gesagt: Erhard schwebte nicht nur ein "Ideal der Stärke" vor; er konnte auch noch darauf zählen, es in der Wirklichkeit anzutreffen. Erhard vertraute nicht nur Menschen, die "sich aus eigener Kraft bewähren, das Risiko des Lebens selbst tragen, für ihr Schicksal verantwortlich sind"; er konnte ihnen im Vertrauen auf unbegrenztes Wachstum Tugendhaftigkeit auch leicht abverlangen.