Tauchsieder

20 Prozent für Höcke?

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Es ist Zeit für eine Entpörungsoffensive

Das alles ist umso bedrückender, als Antisemitismus und Rassismus seit wenigen Jahren wieder auf dem Vormarsch sind in Deutschland. Weil die AfD des rechtsextremen Politikers Björn Höcke an diesem Wochenende in Thüringen womöglich zwanzig Prozent einsammelt. Und weil sich etwa in der Zusammenfassung der aktuellen Shell-Jugendstudie Sätze finden wie: „Bestimmte rechtspopulistische orientierte Aussagen stoßen auch bei Jugendlichen auf Zustimmung. So stimmen mehr als zwei Drittel der Aussage zu, dass man nichts Negatives über Ausländer sagen darf, ohne als Rassist zu gelten.“

Fällt den Studien-Autoren überhaupt noch auf, was sie da schreiben? Dass sie in kritischer Absicht das Narrativ der Rechtspopulisten von der gestörten Meinungsfreiheit übernehmen – und den Jugendlichen als Beleg dafür Rassismus durchgehen lassen? Wenn zwei Drittel der Jugendlichen beklagen, sie dürften nichts Negatives über Ausländer als Ausländer sagen, haben wir kein Problem mit Jugendlichen, die nicht ihre Meinung sagen dürfen, sondern mit Jugendlichen, die nicht wissen, was rassistisch ist: Man kann und muss (auch) Ausländer kritisieren, wenn es dafür Gründe gibt. Aber man darf sie nicht als Ausländer kritisieren. Ist das wirklich so schwer zu verstehen?

Es ist daher höchste Zeit für eine doppelte Entpörungsoffensive: Gesinnungswächter, die nur darauf lauern, Demokraten als Zuarbeiter des rechten Randes zu verunglimpfen (die Liste reicht von Monika Maron über Rüdiger Safranski bis Joachim Gauck und Mathias Döpfner), helfen im Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus so wenig wie hilflose Politiker und Journalisten, die die Höckes und Gaulands dieser Welt beschimpfen – anstatt sie argumentativ und rhetorisch vorzuführen, immer wieder, sie wieder und wieder zu stellen für „Vogelschiss“, „Messermänner“, und „Denkmal der Schande“, für „in Anatolien entsorgt“, „mit Stumpf und Stiel vernichten“ und „Wir wollen uns unser Land und unser Volk zurückholen.“

So wie es der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering in seinem kleinen Bändchen „Was heißt hier ‚wir‘? Zur Rhetorik der parlamentarischen Rechten“ getan hat: eine sprachkritische Dekonstruktion des AfD-Rassismus, ein germanistisches Gerichtsverfahren sozusagen, an dessen Ende keinen Zweifel daran besteht, wonach Höcke und Gauland der Sinn steht: nach der Einheit von Partei und Volk – gegen alle, die sich seit dem 8. Mai 1945 zu Demokratie, Westbindung und offener Gesellschaft bekannt haben.

Detering bringt mit diesem schmalen Bändchen, gleichsam von der stillen Studierstube aus, mehr Substanz und Argumentationskraft in Stellung gegen die AfD-Ideologie als (fast) alle Politiker und Journalisten zusammen, die sich in den vergangenen Jahren so eifrig echauffierten, im Fernsehen und in den Sozialen Medien. Und die am Sonntag wieder mal nicht fassen können, wie das bloß passieren konnte: 20 Prozent für Höcke.

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