Ein Kompromiss ist maximal etwas Zweitbestes. Kein Wunder, dass wir ihn so wenig mögen. Für unseren Glauben stehen wir ein. Unsere Überzeugungen vertreten wir felsenfest. Unser Recht auf eigene Meinung ist uns heilig. Zu einem Kompromiss aber erklären wir uns bereit - wenn überhaupt. Er ist nichts, wofür wir leben, sondern auf den wir uns einlassen. Mit Blick auf Freunde, Partner und Familie liebend gern. Mit Blick auf alles andere eher unfreiwillig, widerwillig - weil's nicht anders geht.
Warum fasziniert uns eine „kompromisslose Natur“? Weil sie mit sich im Reinen, mit sich selbst identisch ist - weil sie „ihr Ding“ durchzieht, Stärke ausstrahlt, Macht und Willenskraft - Souveränität. Für den politischen Kompromiss bedeutet das, dass er das Potenzial zur Kompromittierung hat. Gewiss, er kann ein Ausdruck guten Willens sein, den Frieden erhalten, sogar freundschaftliche Beziehungen begründen. Aber er kann von Kritikern des Kompromisses auch als Zeichen der Schwäche ausgelegt werden, als Machteinbuße und Souveränitätsverlust - als Verrat an hochfliegenden Prinzipien und heiligen Grundüberzeugungen.
Avischai Margalit hat sich vor ein paar Jahren über die Ambivalenz des Kompromisses ausführlich Gedanken gemacht und ist dabei zu folgendem Schluss gekommen: "Ideale können uns etwas Wichtiges darüber sagen, was wir gern wären. Kompromisse aber verraten uns, wer wir sind.“ Für den israelischen Philosophen sind Kompromisse eine Elementartatsache des sozialen Miteinanders: Wir müssen uns im Austausch mit anderen ständig mit weniger zufriedengeben. Und weil das so ist, meint Margalit, sollte man die moralische Integrität eines Menschen mehr an seinen Zugeständnissen messen als an seinen Werthorizonten. Ihn eher mit Blick auf seine Kompromisse beurteilen als mit Blick auf seine Normen.
Und - was bedeutet das mit Blick auf die Sondierungsgespräche in Berlin? Dass hier alles auf einen schlechten Kompromiss hinausläuft. Seit drei Vorlauf- und fünf Verhandlungswochen ringen die Parteispitzen von CDU, CSU, FDP und Grünen nun schon im Namen von „Verantwortung“ und „Wählerauftrag“, aus Angst vor mangelnder Staatsräson und Neuwahlen um einen Ausgleich - aber sie werden ihn auch dann nicht gefunden haben, wenn Angela Merkel, Horst Seehofer, Christian Lindner, Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt in den nächsten Tagen eine „Einigung“ verkünden. Im Gegenteil. Eine Jamaika-Koalition bis 2021 ist vor allem ästhetisch unmöglich: Hier wächst nie zusammen, was nicht zusammengehört.
Die großen Jamaika-Knackpunkte
Soli-Abbau, Kindergeld, Freibeträge, Schulen, Integration, Netzausbau - die Wünsche aus CDU, CSU, FDP und Grünen summierten sich nach Berechnungen von Unionsexperten zeitweise auf mehr als 100 Milliarden Euro. Der Spielraum in den kommenden vier Jahren wurde zuletzt bei gutem Willen auf bis zu 45 Milliarden Euro taxiert. Offen ist, wie stark vor diesem Hintergrund in dieser Legislaturperiode der Solidaritätszuschlag abgebaut werden kann. Er bringt dem Bund derzeit um die 18 Milliarden Euro im Jahr ein.
Union, FDP und Grüne bekennen sich zwar zu den deutschen und internationalen Klimazielen. Bis zuletzt umstritten war aber, wie viel CO2 Deutschland bis 2020 zusätzlich einsparen muss. Dass die Stromgewinnung aus Kohle zurückgefahren werden muss, ist inzwischen Konsens. Aber wie sehr? Die Kanzlerin kam den Grünen entgegen. Und wie kann der Wandel in betroffenen Kohleregionen abgefedert werden?
Die Beratungen zu diesem großen Reizthema waren bis zuletzt besonders heikel. Mühsam genug hatten sich CDU und CSU nach internem Streit auf einen Kompromiss geeinigt, der die Zuwanderung begrenzen soll - nochmalige Änderungen nicht erwünscht. Die Grünen beharren aber auf einem Familiennachzug für Flüchtlinge. Die FDP will das alles über ein Einwanderungsgesetz regeln.
Umkämpft waren bis zuletzt Verbrennungsmotoren, die ins Thema Klimaschutz hineinspielen. Die Union sperrte sich hartnäckig gegen ein Enddatum für Benziner und Diesel, die Grünen pochten auf eine klare Perspektive für nur noch abgasfreie Neuwagen. Unter-Streitpunkte sind die Nachrüstung von Dieselautos für weniger Schadstoffausstoß und eine blaue Plakette für relativ saubere Autos, mit der sich Einfahrverbote für Dreckschleudern in Städte organisieren ließen. Union und FDP wollten davon nichts wissen.
Ein kritischer Punkt war bis zuletzt die Vorratsdatenspeicherung. FDP und Grüne kämpften dafür, nur noch ein anlassbezogenes Vorgehen zu erlauben. CDU und CSU hatten vorgeschlagen, darauf zu verweisen, dass man der laufenden juristischen Prüfung der umstrittenen Speicherung nicht vorgreifen werde. Falls das Ergebnis der Prüfung Änderungen nötig mache, wolle man die zügig umsetzen. Darauf ließen sich FDP und Grüne nicht ein.
Die CSU pocht auf den Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Die Grünen wollen die Beziehungen zur Türkei eingefroren lassen, sahen einen Abbruch der Beitrittsgespräche aber als falsches Signal. Umstritten war bis zuletzt auch, wie Eurostaaten mit schweren Finanzproblemen geholfen werden soll.
Denn ein guter Kompromiss zeichnet sich nicht dadurch aus, dass sich beide Seiten auf halbem Wege entgegenkommen und „Frieden“ miteinander schließen. Er zeichnet sich auch nicht dadurch aus, dass die Partner ein paar Leuchtturmprojekte abtauschen wie Damen und Türme in einem Schachspiel: Du gibst mir den vollen Klimawandel und bekommst dafür die absolute Höchstgrenze. Nein - ein guter Kompromiss ist erst dann ein Kompromiss, wenn er aus politischen Gegnern Rivalen macht, Hostilität neutralisiert und den Verhandlungspartner als Träger berechtigter Interessen anerkennt.
Anders gesagt: Selbst wenn die vier Parteien ihre jeweiligen Maximalpositionen räumen und Zugeständnisse machen - ein belastbarer Kompromiss wird daraus nur, wenn alle Seiten ihm auch seine wörtliche Bedeutung beimessen, das heißt: wenn der Kompromiss als co-promissum, als gegenseitiges Versprechen verstanden wird. Nur auf diese Weise kann Vertrauen wachsen und Konkurrenz sich in Kooperation verwandeln. Ein guter Kompromiss wird mit Vertrauen beseelt, indem man ihn buchstabengetreu umsetzt. Man muss ihn nicht mögen, sich aber trotzdem an ihn gebunden wissen.
Das beteiligte Personal ist nicht zukunftsfähig
Exakt davon wird spätestens in sechs Monaten keine Rede mehr sein können - nicht zuletzt, weil das am Kompromiss beteiligte Personal nicht zukunftsfähig ist. Horst Seehofer zum Beispiel wird die CSU ziemlich sicher nicht mehr als Spitzenkandidat in den bayerischen Landtagswahlkampf 2018 führen. Sein Nachfolger aber wird sich ab Januar gegen den grünen Koalitionspartner profilieren müssen, wenn er im Herbst 40 Prozent plus erreichen will. Andernfalls, „wenn Jamaika dazu führt, dass die CSU bei der Landtagswahl in Bayern die Mehrheit verliert, wird sie die Koalition sprengen“ - so Ex-Kanzler Gerhard Schröder. Recht hat er.
Soli und Subventionen: Kernpunkte der Jamaika-Haushaltssondierungen
Die Jamaika-Unterhändler bekennen sich grundsätzlich zum ausgeglichenen Haushalt. Sie wollen also keine neuen Schulden aufnehmen. Das wäre ohnehin schwierig, weil die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse dem Bund seit 2016 die Aufnahme von Krediten weitgehend verwehrt. Nur in geringem Umfang von 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung sind neue Schulden erlaubt. Bezogen auf das Bruttoninlandsprodukt 2016 entsprach das etwa 10,97 Milliarden Euro. Für „Naturkatastrophen oder außergewöhnliche Notsituationen“ ist ausnahmsweise auch eine höhere Schuldenaufnahme erlaubt, für die aber ein Tilgungsplan erstellt werden muss.
Die potenziellen Koalitionäre wollen keine neuen Substanzsteuern, schließen also die im Grünen-Wahlprogramm geforderte Vermögenssteuer aus. Für Union und FDP ist sie ein rotes Tuch. Auch eine Erhöhung der Erbschaftsteuer wäre wohl unwahrscheinlich. Andere Substanzsteuern wie etwa die Grundsteuer auf Grundstücke erhebt der Staat schon heute.
Hier sollen unter anderem Familien mit Kindern profitieren.
Die verhandelnden Parteien wollen den „Soli“ abbauen. Die FDP will ihn in der aktuellen Wahlperiode komplett abschaffen, und zwar möglichst schnell. Die Union will stufenweise vorgehen. Die Grünen halten das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts ohne den Soli hingegen nicht für machbar. Die Abschaffung würde eine Lücke in den Staatshaushalt reißen: Der Solidaritätszuschlag spülte 2016 insgesamt 16,9 Milliarden Euro in die Staatskasse.
Gebäude verursachen in Deutschland etwa 35 Prozent des Energieverbrauchs und 30 Prozent des Ausstoßes des Treibhausgases CO2. Investitionen zum Beispiel in eine bessere Wärmedämmung oder in moderne Heizkessel könnten in Zukunft besser von der Steuer abgesetzt werden.
Hier wollen die möglichen Jamaika-Partner den Mangel an Mietwohnungen angehen. Investoren könnten dann etwa ihre Kosten teilweise steuerlich absetzen. Auch landwirtschaftliche Flächen sollen dazu für den Wohnungsbau freigegeben werden.
Vor allem Unternehmen sollen die Anschaffungskosten für bewegliche Wirtschaftsgüter wie Maschinen oder Fahrzeuge stärker von der Steuer absetzen können. „Degressiv“ bedeutet, dass Güter mit längerer Nutzungsdauer in immer geringerem Umfang abgesetzt werden können. AfA steht für „Absetzung für Abnutzungen“.
Firmen, die in Forschung und Entwicklung investieren, sollen ihre Aufwendungen zum Teil steuerlich absetzen können.
Auf Betreiben der Grünen sollen vor allem staatliche Hilfen auf den Prüfstand, die den Klimazielen widersprechen. FDP-Generalsekretärin Nicola Beer nannte als mögliches Beispiel aber auch die Förderung von Elektroautos, weil davon vor allem Besserverdiener profitieren würden.
Oder nehmen wir Angela Merkel, deren Nachspielzeit als Kanzlerin längst begonnen hat. Namentlich die Jüngeren in der CDU stellen sich nicht mehr ernsthaft die Frage, ob Merkel bis 2021 regiert - sondern wann sie endlich einen Nachfolger aufbaut, der die Union erfolgversprechend in den nächsten Wahlkampf führen kann. Dass ausgerechnet die größte Partei in den Sondierungsverhandlungen nichts, aber auch gar nichts zu verlieren hat, weil sie keine, aber auch gar keine Position zu irgendwas bezieht, mag ein kurzfristiger Vorteil sein: Merkel spielt noch einmal ihre quasipräsidiale Neutralitätsmacht aus. Mittelfristig aber heißt das: Die programmatische Leere des Kanzlerwahlvereins CDU wird schon bald in Abgrenzung zum Kanzleramt markiert - etwa vom konservativ-wirtschaftsliberalen Duo Jens Spahn und Carsten Linnemann.
Oder nehmen wir die Grünen, die mit ihrem normativen Wollen im denkbar schroffsten Gegensatz zur selbstanspruchslosen Merkel-CDU stehen - und in den Sondierungs- und Koalitionsgesprächen daher am meisten zu verlieren haben: Ein grüner Landwirtschaftsminister, der Massentierhaltung, Kükenschredderei und Schlachtschweinereien kein Ende setzt, ist genauso undenkbar wie ein grüner Umweltminister, der die Klimaziele verfehlt. Dass die christsozialen Kettenhunde Andreas Scheuer und Alexander Dobrindt die Grünen daher ständig wie Marsmenschen bekläffen, mag sich ihrem Willen zur politischen Unterkomplexität verdanken.
Dass Merkel sie nicht zurückpfeift und das „bürgerliche Lager“ keinen Sinn dafür entwickelt, dass es den Grünen gegenüber besonders großzügig auftreten muss, um sie für Jamaika zu gewinnen, grenzt indes schon an politische Blindheit und planmäßige Verweigerung. Sind die Grünen wegen ihrer normativen Selbstansprüche weniger kompromissfähig? Mitnichten. Allein der Preis, den sie für einen Kompromiss bezahlen müssen, ist höher - höher als der Preis zum Beispiel, den die FDP bezahlt, wenn sie sich von einer großen Steuerreform verabschiedet, die wegen der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat ohnehin unmöglich ist.
Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat schon Recht: Die CSU ist die große Dagegen-Partei in den Sondierungsgesprächen: Wer Maut, Mütterrente, Obergrenze und primitiven Autolobbyismus zur conditio sine qua non seiner Politik erklärt, hat sich mit der Vokabel „Schwachsinn“ (Dobrindt) vor allem an sich selbst zu wenden. Weite Teile der Industrie fordern mittlerweile verbindliche Klimaziele, eine Perspektive für den Ausstieg aus der Kohle, einen Horizont für den schrittweisen Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor. Allein die Christsozialen mauern - während ausgerechnet die FDP als pragmatische Kraft reüssiert, indem sie sowohl in der Klima- als auch in der Migrationspolitik ideologisch ausgedünnte Mittelwege aufzeigt.
Ob’s hilft? Schwer vorstellbar, dass hier zusammenwächst, was nicht zusammengehört. Kein Kompromiss der Welt kann die lebensweltlich-emotionalen Dissonanzen zwischen der jungenstolzen Stutzerhaftigkeit Lindners, der pastoralen Beseeltheit Göring-Eckardts und der pavianfelsenartigen Dreistheit Dobrindts überbrücken: „Jamaika“ ist für alle Beteiligten (und Zuschauer) auch und vor allem eine politästhetische Dauerprovokation, in der „grüne Bevormunder“, „bastardliberale Besserverdiener“ und „heimatselige Bierzeltpatrioten“ aufeinandertreffen. Was also tun? Aufhören, noch bevor es angefangen hat? Muss nicht sein. Denn eines ist sicher: Jamaika wird gleich nach dem Kompromiss mit dem Aufhören anfangen.