Tauchsieder
Freie Fahrt kann auch ein Ausdruck von Freiheit sein, wenn rote Schilder die Geschwindigkeit begrenzen. Quelle: AP

Freiheit statt Moralismus

Die Deutschen trugen 2019 mal wieder ihre gute Gesinnung spazieren. Das wird 2020 nicht reichen. Was folgt auf die Ausrufung des  „Klimanotstands“? Und wer setzt endlich das Tempolimit durch?

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Keine Frage, es war ein gutes Jahr für falsche Moral, selbstgewisse Ungnade und Bigotterie. Wir Deutschen trugen mal wieder unsere gute Gesinnung spazieren, um uns das Nachdenken über die Welt und ihre Missstände zu ersparen, weiß Gott, darin sind wir geübt, darin sind wir groß. Vor vier Jahren belehrten wir die Menschheit, dass das aufgeklärte Christentum hierzulande keine Grenzen kennt. Wir hießen Migranten aus aller Herren Länder willkommen, ihr Glück mit uns zu versuchen und unterschieden nicht mehr zwischen Menschen- und Bürgerrechten, wir feierten uns als Multikulti-Kosmopoliten und ziehen all jene, die sich um die die nationale Identität sorgten oder wegen kultureller Unterschiede Bedenken anmeldeten, des Chauvinismus und der Islamophobie.

Dass wir uns mit etwas mehr Regierungskunst und etwas weniger verlogenem Humanismusstolz sehr wahrscheinlich den ein oder anderen Erfolg der AfD erspart hätten, vermag die besonders Gesinnungsstolzen nicht zu überzeugen. Und doch, eines ist gewiss: Grünen-Chef Robert Habeck könnte heute 4000 unbegleitete Kinder aus griechischen Lagern für Geflüchtete und Migranten persönlich hierher lotsen, wären wir vor vier Jahren nicht alle maßlos in unserer selbstgerechten Weltoffenheit gewesen. Man kann es auch zugespitzter formulieren: 4000 Fluchtkinder heute büßen für 4000 Sozialstaatszuwanderer damals.

Kanzlerin Angela Merkel ist als Mentorin der hohlen deutschen Tugendlust an dieser Stelle früh kritisiert worden. Doch im Unterschied zu heute war die Moralisierung des politischen Diskurses vor vier Jahren immerhin nicht expansiv, sondern kontraktiv: Wir Deutschen versicherten uns irrtümlich selbst, besonders gute Menschen sein - und sahen sehr weitgehend von dem Versuch ab, unser Modell in andere Länder exportieren zu wollen. Das ist seit der Ausrufung des „Klimanotstands“ in diesem Jahr anders: Er gebiert eine Moral, die definitionsgemäß global und unbedingt ist, maß- und grenzenlos - eine Moral, die Maßnahmen erzwingt und die Unterwerfung des Individuums unter das Kollektivsubjekt Menschheit verlangt.

Und so tritt Europa jetzt nicht nur an, sich mit einem „Green New Deal“ selbst aus der Krise zu investieren, sondern es rechnet mit seinem „grünen Kapitalismus“ auch den Mittelklassen in Asien, Afrika und Lateinamerika die Nebenkosten desselben technisch-zivilisatorischen Fortschritts vor, dessen Genuss im 19. Jahrhundert auf der Ausbeutung fossiler Brennstoffe (und ferner Kolonien) beruhte - und dessen Träger und Erträge in Form von modernen Kommunikations- und Transportmitteln uns ironischerweise überhaupt erst die Möglichkeit eröffnet haben, den Kulturpessimismus und Zivilisationsekel zu entwickeln, den wir heute so liebevoll pflegen.

Wollen die Klimaaktivisten nicht an Strahlkraft und Glaubwürdigkeit verlieren, dürfen sie sich 2020 nicht mehr wie wachtturmapokalyptische Bußprediger aufführen, die uns aus dem Fegefeuer des kohlenstoffbefeuerten Kapitalismus und seiner übermächtigen Wachstumszwänge befreien, uns von Konsumsünden und Wohlstandseitelkeiten erlösen wollen. Sie dürfen sich nicht mehr in Symboldebatten rund ums Tempolimit, um Silvesterböller (Feinstaub!) und Weihnachtsbäume (Leichenflora im Wohnzimmer!) verlieren - und schon gar nicht Politiker anbetteln, ihnen irgendwelche Verbote aufzuerlegen. Sondern sie werden Antworten liefern und sich dramatisch politisieren müssen.

Wer von „Klimanotstand“ spricht, darf von der Atomkraft nicht schweigen. Wer den „Klimakollaps“ mit hohen Co2-Preisen verhindern will, muss politisch verteidigen, dass Fernreisen künftig (wieder) ein Privileg der Wohlhabenden sein werden - und Kohlekumpel arbeitslos. Und wer der „Klimakrise“ glaubhaft begegnen möchte, muss sich entweder in der Kunst der Entsagung üben (also seinen Konsum einschränken, auf seine Teilnahme am Kulturzirkus verzichten oder Karriereoptionen im Ausland ausschlagen) - oder aber kapitalintensiven Investitionen und Lösungen in Mobilität, Verkehr, Landwirtschaft und Industrieproduktion das Wort reden: einem grün-unternehmerischen Fortschritt ohne neoprotektionistische Zäune, der zum Ziel hat, unseren Nachkommen einen Aufenthalt innerhalb unserer planetarischen Grenzen zu gestatten.

Veränderung ist Ausdruck von Freiheit

Freilich, Menschen wie FDP-Chef Christian Lindner und Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) bleibt im nächsten Jahr noch viel mehr zu tun: Sie müssen endlich lernen, dass die Freiheit eines Menschen (und einer Gesellschaft) darin besteht, Entscheidungen zu treffen (und zu revidieren), dass Menschen sich die Freiheit nehmen, die Welt zu verändern - und dass Veränderung keine Einschränkung der Freiheit bedeutet, sondern im Gegenteil: ihr Ausdruck ist. Gegen ein Tempolimit spricht bekanntlich nichts: Es verflüssigt den Verkehr, verringert die Zahl der Unfälle und verbessert die Klimabilanz (wenn auch nur marginal). Also moralisieren Lindner und Scheuer das Thema, wieder und wieder, seit einem Jahr - und in diesen Tagen erneut: als stünde die Freiheit des Autofahrers auf dem Spiel. Das ist politisch peinlich. Und philosophisch ein Offenbarungseid. Zumal für Liberale. Denn noch einmal: Was ist Freiheit? 

Der kanadische Philosoph Charles Taylor hat bereits vor 30 Jahren darauf hingewiesen, dass die klassische, 1969 von Isaiah Berlin eingeführte, Unterscheidung zwischen negativer Freiheit und positiver Freiheit karikierend defizitär ist: Sowohl die Freiheit von etwas (etwa die Freiheit der Presse vor der Zensur) als auch die Freiheit zu etwas (etwa die Freiheit des Verlegers, zu publizieren, was er meint publizieren zu wollen) bezieht sich nur auf Mögliches, nicht aber auf das zu Verwirklichende, also auf eine Freiheit als „Praxis steuernder Kontrolle über das eigene Leben“. Genau das aber meint Freiheit, ist Freiheit: eine „Fähigkeit, die wir zu verwirklichen haben“. Und es leuchtet ein, dass Relevanzurteile bei der Verwirklichung dieser Fähigkeit eine wichtige Rolle spielen – etwa wenn wir der Lektüre eines Buches von Georg Simmel einen höheren Wert beimessen als der Lektüre eines Buches von Johannes Mario Simmel. Oder wenn wir die Verteidigung einer Demokratie für wertvoller erachten als die Verteidigung einer Autokratie.

Manche Wünsche und Ziele, so Taylor, erscheinen uns bedeutsamer und gehaltvoller als andere, weshalb wir uns die Freiheit nehmen, sie zu verfolgen und nicht andere. Um es an einem einfachen Beispiel aus dem Bereich der Automobilität zu verdeutlichen: Die Freiheit eines Autofahrers in Pjöngjang ist mutmaßlich größer als die Freiheit eines Autofahrers in New York, weil es in Pjöngjang weniger Ampeln und weniger Autos gibt. Dennoch schätzen wir die „freie Fahrt“ in Pjöngjang geringer als den „freien Bürger“ in New York. Entsprechend ist es vernünftig denkenden Menschen auch möglich, die gewonnene Freiheit eines Menschen, der nicht Opfer eines Auotbahnunfalls wird, mehr wertzuschätzen als die Freiheit eines Autofahrers, der sein leitplankgestütztes Aggressionspotenzial ausleben möchte. 

Es sei denn, wir sind Verkehrsminister oder gehören dem organisierten Liberalismus in Deutschland an. Dann schrumpft das große, liberale, politische Ideal der „Freiheit“ an sich zur „Freiheit“ des Autofahrers, um sachgrundlos Stimmung gegen den Verbotsstaat zu machen. Dann triumphiert das Symbol über Politik, mal wieder - der Moralismus über die Moral.

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