Tauchsieder
Quelle: Getty Images

Die Hessenwahl könnte die politische Befreiung bringen

Bei der Hessenwahl geht es ums Ganze: Ihr Ausgang könnte auch das Ende der Regierungskoalition in Berlin besiegeln. Das politische Deutschland muss dringend in Form kommen und Antworten auf große Fragen finden.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Wann je ist eine Landtagswahl so bundespolitisch überformt gewesen, so aufgeladen mit Berliner Machtfragen, wie die am heutigen Sonntag in Hessen? Das habe ich hier schon vergangene Woche gefragt, in der Nachlese zur Bayernwahl, seit der wir wissen: Es gibt keine Volksparteien mehr und keine großen Koalitionen, aber das macht auch nichts: Keine Angst vor Angela Merkels Ende, vor dem Verschwinden der SPD, vor einer Neuwahl im Bund. So was wie an diesem Wochenende in Hessen jedenfalls darf man den Wählern so bald nicht mehr zumuten.

Wer seit Jahren das Ende der programmatisch entleerten Merkel-Union herbeisehnt, kann bei aller Sympathie für den freundlichen Volker Bouffier und seine ordentliche Politik in Wiesbaden nicht für die CDU stimmen. Und wer der SPD das Beste wünscht, also Andrea Nahles‘ Demission als Parteichefin und den Sofortausstieg aus der Koalition in Berlin, muss dem tadellos sachlichen Spitzenkandidaten Torsten Schäfer-Gümbel unbedingt seine Stimme versagen: Politik schizophren.

Das Schlimme an der totalen Wählerverunsicherung: Egal welche Ergebnisse ab 18 Uhr in unsere Wohnzimmer gesendet werden – sie werden minimal aussagekräftig und maximal interpretationsfähig sein – und den Akteuren in Union und SPD als Argument zur erneuten Realitätsflucht dienen. Man hört sie bereits wieder davon sprechen, dass sie die Resultate und die Lage „jetzt erst mal gründlich analysieren“ wollen – obwohl es (auch für die Demoskopen) nichts zu analysieren gibt, was über die Zufälligkeit der Stimmkreuze an diesem Wahltag hinausreicht.

Union und SPD geloben nach der Bayernwahl „Besserung“, Rückkehr zur „Sacharbeit“ – und gehen zur Tagesordnung über. Die Quittung gibt’s nächste Woche in Hessen. Berlin darf sich auf eine Neuwahl einrichten.
von Dieter Schnaas

Denn ganz gleich, wer in letzter Sekunde landes- oder bundespolitisch stimmt, gegen Merkel oder für Bouffier, für die Grünen in Wiesbaden oder gegen die Andrea-Nahles-SPD in Berlin – die entscheidenden Wahrheiten zum Konkurs der Berliner Nichtregierungsorganisationen Union und SPD liegen ja längst auf dem Tisch. Merkel selbst hat in dieser Woche die CDU-Anhänger in Hessen angefleht, nicht Bouffier abzustrafen, wolle man ihr einen Denkzettel verpassen. Sie weiß nicht nur, dass es für sie am Sonntag ums Ganze geht, weshalb sie die Wähler beschwört, am Sonntag nicht übers Ganze abzustimmen. Sondern sie weiß auch, dass man Rückenwind aus Berlin nur noch produzieren kann, wenn man sich als Kanzlerin gegen das Kanzleramt stellt – und als CDU-Chefin darum barmt, nicht für die (Nicht-)Politik der CDU-Chefin verantwortlich gemacht zu werden. Politik pervers.

Immerhin: Nach Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) vor zwei Wochen erwartet nun auch CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer Erschütterungen in Berlin: Die Lage in den drei Parteien sei angespannt, deshalb könne niemand sagen, „wie stabil das bleibt, was sich vor allem an Dynamiken in den einzelnen Parteien entwickelt“. Sie rechnet mit einer raschen Neuwahl, sollte die Koalition in Berlin nach den Ergebnissen von Wiesbaden auseinanderbrechen. Es scheint fast, als erhofften sich Union und SPD von der Landtagswahl in Hessen eine kathartische Wirkung – und tatsächlich geht es in Berlin nur noch darum, wer den Knoten durchschlägt und die Spannung löst.

Die CSU, die sich für schlaumeierische Belehrungen nach der Bayernwahl über Armin Laschet, Daniel Günther und Kramp-Karrenbauer an Merkel, vielleicht auch an ihr selbst rächt? Die CDU, in der sie sich eifersüchtig belauern und positionieren, seit das Rennen um die Merkel-Nachfolge entbrannt ist? Nun – wahrscheinlich wird es wieder mal die SPD richten müssen. Sie allein ist lustbereit genug, wenn es um Niederlage und Untergang, Selbstreinigung und Läuterung geht: Auferstanden aus Ruinen… – auch wenn die letzte erfolgreiche Auferstehung nun fast schon 2000 Jahre zurückliegt.

Die Sozialdemokratie sehnt sich nach einer schier unendlichen Serie von Wahl- und Umfragedebakeln danach, sich in der Opposition zu sammeln und zu regenerieren: Der Riss zwischen Spitze und Basis ist kaum noch zu kitten – schon gar nicht, weil diese Spitze meint, sich aus teils staatsräsonalen, teils amtserhaltenden Gründen am Kabinetts-Katzentisch festhalten zu müssen. Die SPD hat, Ironie der Geschichte, fast 20 Jahre lang die Richtlinien der Wirtschafts- und Sozialpolitik bestimmt in Deutschland, auch die von Merkel, sie hat die Energiewende eingeleitet, die Arbeitslosigkeit reduziert, den Mindestlohn durchgesetzt und Teilzeit-Ansprüche erkämpft – und sich mit jedem weiteren Erfolg von den Deutschen entfernt und sich selbst entfremdet. Sollte der Trend sich in Hessen bestätigen, wird sie den Blick gen Himmel richten und mit Rilke seufzen: „Herr, ist es Zeit…“ – Politik paradox.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%