Tauchsieder

It’s the consumer, stupid!?

Seite 2/2

Für die Union ist das Lobbyieren für den Konsumenten besonders heikel

CSU, SPD und Linke im Gleichschritt marsch Richtung Desinformation – man könnte glatt von einer großen Koalition des „Konsumenten-Populismus“ sprechen. Ob es sich lohnt? Vor allem für die „bürgerliche“ Union steht viel auf dem Spiel: Sie konkurriert in jeder Parteinahme für den „kleinen Mann“, vor allem in Ostdeutschland, mit der AfD, ohne es mit ihr in punkto Ruchlosigkeit aufnehmen zu können. Und sie hat außerdem, anders als die SPD, einen Ruf als politische Organisation zu verlieren, der das „Erwirtschaften“ traditionell wichtiger ist als das „Verteilen“, zu deren Markenkern es gehört, sich das Soziale in der sozialen Marktwirtschaft vor allem als Produkt eigentumsbildender Produzenten zu denken, die nicht (mehr) abhängig sind von der „Stallfütterung“ des Staates (Wilhelm Röpke).

Für die Union ist das Lobbyieren für den Konsumenten daher besonders heikel: Auch Freunde billigen Benzins haben nichts gegen zwölf Euro Mindestlohn einzuwenden und würden womöglich gern schon bald ein E-Auto fahren. Insofern ist auch der Langstreckenlauf ins Kanzleramt noch lange nicht gewonnen für die Union, im Gegenteil: Die Grünen verfügen nach wie vor über eine überzeugende Basiserzählung, weil sie unter den Bedingungen des Klimawandels auf einen Interessenausgleich von „Produzenten“ und „Konsumenten“ hinausläuft und Umverteilungseffekte gleichsam „unsichtbar“ erzielt werden: Einerseits steigen die Preise für CO2-Emissionen, mit der Folge, dass Investitionen in die (inzwischen allseits) erwünschte Richtung kanalisiert werden (Produzentenseite). Andererseits hat die „Besteuerung“ von Emissionen eine Lenkungswirkung im reinsten Sinne des Wortes, weil alle Einnahmen an die Bürger zurückfließen sollen (Konsumentenseite) – was drittens zur Folge hat, dass Menschen, die wenig CO2 emittieren (und weniger verdienen) auf gleichsam natürliche Weise entlastet werden, während die Belastung von Menschen mit einem größeren CO2-Abdruck – Vielflieger, SUV-Fahrer – sukzessive steigt (Verteilung).



Es ist nach den Erfahrungen und Beobachtungen der vergangenen Wochen alles andere als sicher, ob Annalena Baerbock das Vermögen besitzt, diese „Story“ glaubwürdig und gut zu erzählen, die Grünen aus der Einthemen-Ecke zu holen, sie volksparteilich aufzustellen, ohne dabei die eigene Basis zu vergrätzen. Aber die übrigen Parteien täten gut daran, den Grünen endlich ihren Sieg im Rennen um das „Ob“ von Klimapolitik zu gönnen – und schleunigst in den Wettstreit um das bessere „Wie“ einzusteigen. Mit Desinformationskampagnen á la „Grün wählen muss man sich leisten können“ können Union und SPD in Umfragen womöglich kurzfristig Geländegewinne erzielen. Aber gewiss nicht die Zukunft des Landes gewinnen. Und wenn CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet nun den „Traum vom Sommerurlaub“ in Gefahr sieht, um die Grünen als Partei der Besserverdienenden zu diskreditieren, dann ist das keine Sachpolitik, die den Klimawandel adressiert, sondern billiger Mallorca-Populismus. 

Die FDP macht seit Wochen vor, wie es geht: Parteichef Christian Lindner hat sich ein Grünen-Beißverbot auferlegt und punktet mit alternativen, betont marktgängigen, Konzepten zur Beherrschung des Klimawandels. Und auch Union-Fraktionschef Ralph Brinkhaus weist seiner Partei den Weg: „Der Kampf gegen den Klimawandel, den wird es nicht umsonst geben“, sagt Brinkhaus, und: „Benzin wird teurer, jetzt ein bisschen, in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts wird es richtig teurer.“ So ist es. So gewinnt Politik Vertrauen: Indem sie „Bürger“ als „Produzenten“ anspricht, die ihre Zukunft zu gestalten haben – nicht als „Kunden“ und „Konsumenten“, die Gefahr liefen, grünen Sozial- und Klimaingenieuren zum Opfer zu fallen. 

P.S.: Die „Fleischpreise“ in der Kaiserzeit sind nicht zu vergleichen mit den „Flugpreisen“ heute. Jene hatten eine existenzielle Dimension; diese repräsentieren einen Anspruch, wie er nur auf der Basis eines vormals undenkbaren Konsumniveaus erhoben werden kann (thanks, Kapitalismus!). Aber eben weil die Fleischpreise damals auf andere Weise „politische Preise“ waren als sie es heute sind, lohnt ein analogisierender Blick in Geschichtsbücher wie das von Christoph Nonn. Seine Darstellung ragt heraus aus der Fülle der Publikationen zum 150. Geburtstag der Reichsgründung; sie ist elegant geschrieben, klug gegliedert – und voller überraschender Einsichten, gewonnen aus der Freude an Kontrapunkt und Vieldeutigkeit, aus der schieren Lust an der Überblendung von Mikro- und Makroperspektiven: Hier schärft sich das historische Urteil an der Aufmerksamkeit fürs Detail, hier fallen Beispiele vorläufigen Befunden ins Wort, hier prüft ein Autor Tagebucheinträge und Fachhypothesen, Redezitate und Branchenmythen, um uns mit komplexe Quintessenzen einer bewegten Zeit zu konfrontieren. Konkret bedeutet das: Nonn exemplifiziert und ordnet sein Material anhand von zwölf Tagen und Personen, Ereignissen und Epochenstichworten („Kulturkampf“ und „Sozialistengesetz“, „Bismarck“ und „Kolonialismus“, „Flottenpolitik“ und „Köpenick“, „Antisemitismus“ und „Sozialgesetzgebung“, „Julikrise“ und „Revolution“) und bindet die episodischen Geschichtsbilder mit einem roten Faden zusammen; die einzelnen Kapitel sind durchwirkt von datengesättigten Skizzen der gewaltigen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Umbrüche zwischen 1871 und 1918. Das Ergebnis: ein faszinierend facettenreiches Hell-Dunkel-Panorama der Kaiserzeit.

P.P.S.: Das Historikerstreitchen um das Erbe der Kaiserzeit erweist sich bei der Lektüre von Nonns Buch übrigens als das, was es ist: ein Historikerstreitchen, in dem der Wille zur (Unterstellung von) Komplexitätsreduktion zwischen den Protagonisten gleich verteilt zu sein scheint. Viele Deutsche haben das Kaiserreich, vereinfacht gesagt, in Weimar als „gute alte Zeit“ erinnert, in Bonn als autoritären Junker-, Militär- und Gehorsamsstaat mit starken Kontinuitäten in Richtung Nationalsozialismus – und in Berlin zuletzt als Wegbereiter unserer heutigen, liberalen, demokratischen Moderne. An eine „gute alte Zeit“ denkt heute niemand mehr.

Das interessiert WiWo-Leser heute besonders

Geldanlage Das Russland-Risiko: Diese deutschen Aktien leiden besonders unter dem Ukraine-Krieg

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine belastet die Börsen. Welche deutschen Aktien besonders betroffen sind, zeigt unsere Analyse.

Krisenversicherung Warum Anleger spätestens jetzt Gold kaufen sollten

Der Krieg in der Ukraine und die Abkopplung Russlands von der Weltwirtschaft sind extreme Inflationsbeschleuniger. Mit Gold wollen Anleger sich davor schützen – und einer neuerlichen Euro-Krise entgehen.

Flüssigerdgas Diese LNG-Aktien bieten die besten Rendite-Chancen

Mit verflüssigtem Erdgas aus den USA und Katar will die Bundesregierung die Abhängigkeit von Gaslieferungen aus Russland mindern. Über Nacht wird das nicht klappen. Doch LNG-Aktien bieten nun gute Chancen.

 Was heute noch wichtig ist, lesen Sie hier

Mit Blick auf die beiden übrigen Deutungen sagt Jürgen Kocka hier das Nötige: „Man muss akzeptieren, dass der Staat des Kaiserreichs eben beides war: einerseits ein autoritärer Militär- und Beamtenstaat, der den alten Eliten viel Macht und Maßgeblichkeit beließ, Untertanen-Mentalität beförderte und aggressiven Nationalismus züchtete, bis in den großen Krieg hinein; und andererseits das Gehäuse für wirtschaftlichen Aufstieg und Überwindung der Armut, für raschen gesellschaftlichen und kulturellen Wandel für Aufbruch und Emanzipation.“ Nonn liefert eine vorzügliche Langfassung dieses Satzes. Er taucht das Polarisierende beider Positionen ins Säurebad der Ambiguität. Er legt seine Leser nicht auf die Rolle von „Konsumenten“ fest. Sondern mutet ihnen eine Uneindeutigkeit zu, die angenehm „produktiv“ ist.

Mehr zum Thema: Was heute die Auto-CEOs sind, waren damals die Bauern – ein Essay von Historiker Christoph Nonn.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%