Tauchsieder
Fürchtet euch nicht Quelle: Getty Images

Fürchtet Euch nicht?!

Im Kreml herrscht ein skrupelloser Angstproduzent – in Deutschland regiert furchtbar falsche Ängstlichkeit. So wird das nichts mit Nationalverzicht. Und schon gar nichts mit der Verteidigung und Selbstbehauptung Europas.

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„Die Zeit, die ist ein sonderbar’ Ding“, singt die Marschallin im „Rosenkavalier“ von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal: „Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie.“ So wie im Moment. Westeuropa stürzt aus dem zeitlosen Nichts der Nachkriegszeit mit seinen eminenten Wohlstandsgewinnen und politischen Exporterfolgen in die Allgegenwart eines Krisengefühls, das sich vor allem den Deutschen auch als memento mori ihres Geschäftsmodells aufdrängen muss: moralisch immer auf der höchsten Zinne. Aber militärisch protegiert von den USA, ökonomisch abhängig von China, konkurrenzfähig vor allem dank billigem Russlandgas.

Das Selbstbewusstsein einer stolzen Handelsnation löst sich plötzlich in Luft auf – und Deutschland gibt sich der Welt im Rückspiegel als Vanitas zu erkennen: als Sinnbild des Aufgedonnerten und Eitlen, Scheinbaren und Vergänglichen. Wir können die Ukraine nicht retten. Wir kuschen vor Putins Drohgebärden. Wir können unser Land nicht verteidigen. Wir sind der Inflation ausgeliefert. Wir kommen nicht mal warm über den Winter. Und so ist’s gründlich vorbei mit dem gemütlich’ „Dahinleben“.

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Die Deutschen spüren in diesen Wochen „nichts als sie“, die neue Zeit und ihre Macht: als Drangsal der Gegenwart, als Geschichte „in the making“. Einerseits. Andererseits fliehen sie in diesem Sommer noch einmal die aufdringliche Präsenz der Weltpolitik und des Wohlstandsverlustes, des Krieges, des Virus und des Klimas – so gut es eben geht. Die Urlaube sind gebucht. Die Restaurants rappelvoll. Und die Stadien ausverkauft, wenn Seelenmasseure wie Rammstein, Coldplay und die Stones zu den Lautsprechern rufen.

Offenbar ist Angst ein noch viel sonderbareres Ding als die Zeit. Psychologen würdigen sie als Instinkt, der unser Überleben sichert: Wittern wir eine Gefahr, versetzt der Körper uns in Alarmbereitschaft. Er schüttet Adrenalin aus und treibt unser Herz an, schärft unsere Sinne, macht uns schwitzen – und weckt unsere Bereitschaft, der Gefahr zu begegnen – oder ihr zu entfliehen. Von einer solchen Angst scheinen die Deutschen derzeit nichts zu spüren. Ihre Angst schlummert und döst im gleichmäßigen Strom schlechter Nachrichten, schlafwandelt fast gewohnheitsmäßig durch Fernsehbilder der Zerstörung, rote Zahlen im Depot und Aufpreise an der Supermarktkasse. Aber Vorsicht: Psychologen sagen auch, Angst sei „ein schlechter Ratgeber“. Sie verzerre unsere Aufmerksamkeit und versklave unsere Vernunft, etwa wenn wir in Panik geraten oder beunruhigt sind beim Besteigen eines Flugzeugs, nicht aber am Steuer eines Autos. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass die schnarchende Angst dieser Tage die Fähigkeit besitzt, unsere Ratio zu vernebeln.

Putin und die Angst

Von welcher Beschaffenheit also ist die Angst? Wie kriecht sie in uns? Wie macht sie sich als politischer Faktor bemerkbar? Auf welche Weise schlägt der Potentat im Kreml als skrupelloser Angstproduzent Europa in seinen Bann? Und warum lässt sich die Bundesregierung von Furchtsamkeit (vor dem Atomtod, vor einer Eskalation des Krieges, vor sozialen Unruhen in Deutschland) regieren?

Bei den alten Griechen war die Angst noch ganz im Angriffsmodus unterwegs: Phobos (Angst) und Deimos (Schrecken) zieren im Trojanischen Krieg den Schild des Heerführers Agamemnon. Und der Kriegsgott Ares heißt seine beiden treuen Begleiter im 15. Gesang der Ilias, „die Pferde anzuschirren“, während er selbst sich in eine „strahlende Rüstung“ zwängt, um den Tod seines Sohnes zu rächen: Die Angst tritt also ursprünglich an der Seite des Schreckens in Aktion, als dynamisches Duo, als aktive Drohung und Verursacher passiv erlittenen Entsetzens, als machtvoller Angstverbreiter und raumfüllender Furchtfaktor. Es ist eine Angst, wie auch Putin sie verbreitet. In der Ukraine als täglich manifester Schrecken durch die Zahl-, Wahl- und Ziellosigkeit seiner Zerstörungswut. In Europa als latenter Schrecken durch das Beispiel der Zahl-, Wahl- und Ziellosigkeit seiner Zerstörungswut in der Ukraine.

Der Eisberg ist schon in Sichtweite, und auf der Berliner Kommandobrücke wissen sie längst: Das geht nicht gut. Trotzdem genehmigt die Regierung den Deutschen noch immer Realitätsferien. Das geht erst recht nicht gut.
von Dieter Schnaas

Es ist wichtig zu verstehen, dass die Verbreitung von Angst und Schrecken nicht nur gewalttätig und zynisch ist, sondern auch raumgreifend, indem sie das Feld zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Angst bespielt, mithin permanent „in der Luft“ liegt: als Angst, die sich im Areal zwischen Absender und Adressat verbreitet.

Im Zeitalter der Marschflugkörper und Raketenwerfer heißt das, dass Putin die gesamte Ukraine in einen Raum der Angst und des Schreckens verwandelt hat, die Angst dort permanent als Schrecken konkretisiert. In Polen, im Baltikum oder in Deutschland dagegen konkretisiert Putin die Angst als opaken Furchtraum – und es fällt uns schon sprachlich nicht leicht, mit dieser „Atmosphäre der Angst“ umzugehen. Denn während das altgriechische „phobeo“ zwischen transitiver und nicht-transitiver Bedeutung oszilliert, verstehen wir im Deutschen Angst und Furcht subjektiv, also entweder als elementares Verlassenheitsgefühl in der Tradition des Augustinus („Ich fürchte mich“) oder als anlassbezogene und bestimmbare „Ich-habe-Angst-vor-etwas“ – ohne den dazwischenliegenden „Raum der Angst“ mitzubedenken.



Wohl auch deshalb fiel es uns vor zwei Jahren schwer, mit unserer Corona-Angst umzugehen: Sie kannte kein Gegenüber, war unbestimmt, lag in der Luft wie einst Miasma – und sprengte unser limitiertes Angstverständnis. Sie ließ sich weder fassen als objektbezogene Furcht (das Virus entzog anfangs seiner tätigen Adressierbarkeit) noch als diffuses, subjektiv empfundenes Angstgefühl (das Virus war ein klar identifizierbarer Auslöser unserer Angst). Und schon gar nicht fiel die Corona-Angst gewalttätig wie Phobos und Deimos über uns her, um uns in Panik zu versetzen.

Das alles ist heute anders. Wir kennen den Grund unserer Beklemmung. Wir wissen, wer ein Land in Europa verheert. Wir können sehr genau identifizieren, dass Putins Russland den Kontinent in einen Angstraum verwandelt. Und lassen uns doch regieren von einer unbestimmten Furchtsamkeit gegenüber dem Urheber der Gräueltaten – vorneweg die Regierenden. Wie kann das sein?

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