Tauchsieder
Friedrich Wilhelm Raiffeisen

Genossen können auch anders

Eine Mischung aus Crowd-Fundern und Share-Capitalists, die vom Staat nichts erwarten und sich selbst helfen - Friedrich Wilhelm Raiffeisen, der Erfinder der eigentumsbasierten Solidarökonomie, wurde vor 200 Jahren geboren. Seine Idee hat ihre beste Zeit noch vor sich.

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Könnten wir noch einmal vorn anfangen mit dem Kapitalismus und der Industriellen Revolution, müsste sich vor allem die Kritik was Besseres überlegen. Seit der Trierer Volksfreund Karl Marx vor 150 Jahren sein gleichnamiges Buch publizierte, setzt diese Kritik bekanntlich am „Kapital“ an, also an der Aneignung von Produktionsmitteln, an der Ausbeutung der Arbeitskraft und an der Profitgier der Kapitalisten - obwohl die meisten „abhängig Beschäftigten“ hierzulande längst gut verdienende Arbeitnehmer sind und mit ihrer „Ausbeutung“ ziemlich einverstanden.

Was also, wenn man den kritischen Blick vom Kapital weg hin auf den Kredit und auf den Preis des Geldes lenkte? Wenn man sich nicht an den hochfliegenden Theorien von Marx über die Verelendung eines urbanen Proletariats, sondern an der bodenständigen Praxis einer eigentumsbasierten Solidarökonomie orientierte, wie sie Friedrich Wilhelm Raiffeisen etablierte? Beide sind in diesen Wochen vor 200 Jahren geboren wurden: Marx, der mit seinen Ideen das 20. Jahrhundert prägte. Und Raiffeisen, der mit seinem Handeln auf die Probleme des 19. Jahrhunderts reagierte - und das 21. nachhaltig prägen dürfte. Man darf gespannt sein, ob es der Kampagne „Mensch Raiffeisen“, die am 11. März mit einem Festakt im Kurfürstlichen Schloss in Mainz abhebt, in den nächsten Wochen gelingen wird, die Modernität der Genossenschaftsidee herauszustreichen.  

Was Raiffeisen mit Johann Wolfgang Goethe intuitiv begriff: Im „Durchrauschen des Papiergeldes“ und dem „Anschwellen der Schulden“ liegt das Dämonische der modernen Wirtschaftsordnung, nicht in der Anhäufung und Investition von Kapital - die Expansion der Geldmenge kommt dem Staat und einigen wenigen Finanzingenieuren zugute, die versprechen, eine endlose Fortschritts- und Wachstumsspirale in Gang zu setzen, aber nicht dem Gros der Bevölkerung. Kann eine Marktwirtschaft gesund sein, die den meisten Menschen den Zugang zum Kapitalmarkt verwehrt und deren Eigentumsbildung verhindert? Eine Marktwirtschaft, in der der Preis des Geldes von ein paar Gewieften manipuliert wird, um ihre ökonomischen Risiken von oben nach unten umzuverteilen? 

Als der preußische Kommunalbeamte Friedrich Raiffeisen anderthalb Jahrzehnte nach Goethes Tod den „Flammersfelder Hülfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirte“ (1849) gründet, findet er auf diese Fragen eine klare Antwort. Er nimmt den Wucherern und  ihren mephistophelischen Zettelkünsten den Wind aus den Segeln, indem er die Solidarität einer westerwäldischen  Geld-Gemeinschaft organisiert. Seine Motive sind damals noch vor allem karitativer und sozialkritischer Natur. Die Bauern müssen zu ihrer „Befreiung“ ihre ehemaligen Gutsherren entschädigen, sie verschulden sich - und landen oft geradewegs in der Zinsknechtschaft, etwa weil sie sich nach einer Missernte kein neues Saatgut kaufen können.

Raiffeisen gewährt günstige Kredite, sichert Landwirten einen Zugang zum Kapitalmarkt - und adelt spätestens mit der Gründung der ersten Genossenschaftsbank (1864) einen alternativen Kapitalismus, in dem Haftungsgemeinschaften mit ihrem Geld auch Vertrauen und Verantwortung zirkulieren lassen. Seine Genossen sind Kleinbanker, Kreditnehmer und Geschäftspartner in einer Person, eine Mischung aus Crowd-fundern und Share-Capitalists mit begrenzten Mitteln, die vom Staat nichts erwarten, die sich selbst helfen und die sich - Einer für Alle, Alle für Einen - einem definierten Zweck, einer gemeinsamen Sache verpflichtet fühlen.

Die Modernität von Raiffeisens Idee liegt darin, dass sie Kredite und Geschäftsanteile nicht nur monetär, sondern auch als soziales Bindemittel denkt. Raiffeisens Geld sorgt nicht (nur) für einen friedlichen Ausgleich zwischen zwei individuellen, egoistischen Interessen wie in den Modellen der klassischen Nationalökonomie. Sondern es stiftet (auch)  vertragliche Beziehungen. Mit der Zahlung von Geld gehen Gläubiger und Schuldner eine Verpflichtung ein, eine wechselseitige Verbindlichkeit, die obligatorisch ist, und die voraussetzt, dass sich beide Parteien auf Augenhöhe begegnen. Das ist der erste Kerngedanke des Genossenschaftsprinzips: Ohne Symmetrie von Macht keine lauteren Geschäfte.

Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818 - 1888) hat diese Grundidee zeit seines Lebens ethisch-religiös fundiert und seine dörfliche Umwelt im weitesten Sinn als Allmende verstanden, deren Bewirtschaftung zum Wohle und Nutzen aller nur gemeinsam, genauer: im Wege eines gruppierten Selbstinteresses gelingen kann. Aufgewachsen als siebtes von neun Kindern unter der Obhut eines Ortspfarrers, seines Patenonkels, gründet er mit 27 Jahren als Bürgermeister der Gemeinde Weyerbusch im Westerwald im Hungerwinter 1846/47 zunächst einen „Brodverein“, dessen Mitglieder für Kredite an Bedürftige haften, um ihnen, modern gesprochen, Hilfe zur Selbsthilfe zu gewähren. Der Verein nimmt das System der Mikrokredite vorweg, wie sie heute in Schwellen- und Entwicklungsländern ausgegeben werden, etwa zum Aufbau eines kleinen Gewerbes. Seither verfolgen Raiffeisens „Wohltätigkeitsverein“ und „Darlehnskassen-Verein“, in dem Kreditgeber und Kreditnehmer vereint sind, immer auch soziale Zwecke: Sie schütten keine Dividenden aus. Und ihre Gewinne vermehren entweder das Stiftungskapital oder fließen der Gemeinde zu, um etwa eine neue Schule zu bauen.

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