In der vergangenen Woche wurde des Tages der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz gedacht: Die Rote Armee erreichte am 27. Januar 1945 den Lagerkomplex, in dem die Nationalsozialisten bis zu 1,5 Millionen Menschen, die meisten davon Juden, interniert, herabgewürdigt, gefoltert und systematisch umgebracht haben. Der Name „Auschwitz“ ist in der Nachkriegszeit zum Synonym für den industriell betriebenen Völkermord geworden, für den Holocaust, die Shoah - für die Singularität eines ethnisch-rassistischen Menschheitsverbrechens: Seit 1996 ist der 27. Januar in Deutschland und seit 2005 weltweit ein Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus.
Mit einiger Verwunderung und ungläubigem Staunen hat man daher in dieser Woche auch erfahren, dass vier von zehn Deutschen im Alter zwischen 18 und 34 Jahren „wenig“ oder „gar nichts“ über die Judenverfolgung und -vernichtung unter den Nazis vor und während des Zweiten Weltkriegs wissen. Die entsprechende Studie des Marktforschungsinstituts ComRes im Auftrag des US-Fernsehsenders CNN stammt bereits aus dem November 2018 - aber erst jetzt wurden ihre Befunde etwas breiter diskutiert. Und ein Fernsehsender machte die Probe aufs Exempel, befragte ein paar junge Erwachsene - und siehe da: Manche hatten zu „Auschwitz“ tatsächlich kaum etwas zu sagen - liegt ja auch schon ein bisschen zurück. Und als Unterrichtsstoff sei das Thema auch ganz schön „trocken“ gewesen. Wirklich gepackt, sagten einige, habe sie die jüngere Geschichte ihres Landes, wenn überhaupt, nur in der Begegnung mit Zeitzeugen.
Das ist bestürzend und alarmierend. Bestürzend: Die mangelnde Kenntnis von „Auschwitz“ in einem Land, das (zu Recht) viel auf seine Erinnerungskultur hält. Vielleicht sollten Kulturpolitiker mal etwas weniger von iPads, neuen Schulfächern (Wirtschaft! Informatik!) und funktionsintelligenten, notenglänzend-wettbewerbsfähigen Schülern träumen und mal wieder mehr in Kreide, Matritzen, Landkarten und Geodreiecke investieren, vor allem aber in das pädagogische (Erzähl- und Vermittlungs-)Vermögen der Lehrer und in eine Allgemeinbildung der Jugendlichen, die diesen Namen auch verdient.
Denn alarmierend ist: Dass das Empathievermögen nicht nur vieler junger Erwachsener an den Grenzen der eigenen Facebook-Welt Halt macht, sich auf spontan hingedäumeltes Mitgefühl nach Katastrophen, Terroranschlägen und Prominenztodesfällen beschränkt - oder sich zutiefst gefühlig auf das Größte, Fernste, Billigste, das Unerreichbare, Systemische und Symbolische kapriziert: auf den Klimawandel, die Rettung der Weltmeere, das Ende der Ausbeutung im Kapitalismus. Wohlverstanden: Für Jugendliche mögen das notwendige Referenzpunkte eines sich ausbildenden Moralempfindens sein. Für junge Erwachsene aber sind sie ganz bestimmt nicht hinreichend: Wer 25 ist und beim Stichwort „Auschwitz“ noch immer an seinen Geschichtsunterricht denkt und einen „trockenen“ Stoff - der ist, mit Verlaub, nicht ganz bei Trost.
Oder Opfer eines Unterrichts, der die zivilisatorischen und politischen Errungenschaften der Moderne nicht mehr im Licht der Geschichte zu spiegeln, sie zu sortieren und einzuordnen weiß. Denn die Folgen der Geschichtsvergessenheit sind ja nicht nur oberflächenphänomenal zu besichtigen (das Stottern, wenn die Rede auf „Auschwitz“ kommt…). Sondern sie reichen auch tiefer: Wer von „Auschwitz“ nur eine vage Vorstellung hat, könnte auch leicht auf die Idee kommen, Hitler und die Nationalsozialisten seien „nur ein Vogelschiss“ in 1000 Jahren deutscher Geschichte (AfD-Chef Alexander Gauland). Oder allgemeiner gesprochen: Wer sich keinen Begriff machen kann von der alltäglichen Gewalt und Not in Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - von Grabenkämpfen, Gaskriegen und Grippe-Epidemien, von Revolutionen, Streiks und Straßenschlachten, von Folter und Hungertod, Inflation und Enteignung, Verfolgung und Vertreibung - der kann auch nicht so leicht einen Sinn entwickeln für die Vorteile eines ideologisch ausgenüchterten, postnationalen EU-Europas - oder auch nur für das unfassbare Glück, ausgerechnet hier und heute geboren zu sein.
Trockener Stoff? Die Voraussetzungen für einen Geschichtsunterricht, in der sich Schüler und Studenten eine historische Zeit anverwandeln, waren nie besser: Originale Schriftquellen und Gegenstände, Filme, Kunst, Musik und Literatur sind in Museen und Büchern omnipräsent, geradezu beliebig verfüg- und verknüpfbar - und sie ließen sich auch im Unterricht zu fesselnden Erzählungen montieren: zu einem allmählichen sich rundenden, dynamischen Bild aus historischen Mosaiksteinchen, die Geschichte synästhetisch verlebendigten. Bei dieser Anverwandlung ginge es wohlgemerkt nicht um die Erzeugung von Betroffenheit: Geschichte ist keine Story, die romanhaft trivialisiert gehört. Sondern es ginge um Anschluss- und Rückbesinnungsfähigkeit - um das schiere Verstehen der Gründe für das, warum wir etwa in Deutschland an den Holocaust erinnern, Europa als „Friedenprojekt“ verstehen und kultureller Nationalismus ein Widerspruch in sich ist.
Wer verstehen will, warum das heute wichtiger (und schwieriger) denn je ist, kann etwa bei Hermann Lübbe nachschlagen: Der Philosoph hat schon vor gut drei Jahrzehnten den Begriff der „Gegenwartsschrumpfung“ geprägt. Damit meinte er: Je schneller etwas veraltet, desto enger wird der Zeitraum, den wir noch als „unsere Zeit“ begreifen können. Lübbe hat daraus noch den Schluss gezogen, dass das Interesse der Menschen am Vergangenen wächst - und die Musealisierung der Gegenwart schien ihm in gewisser Weise recht zu geben. Aber mit der Musealisierung ging auch eine touristische Trivialisierung einher: Man stattete der Vergangenheit einen flüchtigen Besuch ab und interessierte sich in etwa für sie, wie man sich im Zoo für eine Giraffe interessiert.
Vor allem aber konnte Lübbe noch nicht mit den Folgen der Digitalisierung und dem Präsentismus der digitalen Medien rechnen: Facebook und Twitter schaffen die Bedingungen einer Kommunikation, die alles Zeitliche und Erzählerische zugunsten einer unendlichen Serie von Momenten tilgt. „Die Welt“ kreist dann mit hoher Geschwindigkeit buchstäblich um sich selbst: um Augenblicke, deren „Sinn“, „Wahrheit“ und „Bedeutung“ allein in der sofortigen Rückkopplung, in der instantanen Bezeugung anderer Nutzer besteht. Anders gesagt: Die Menschen werden arretiert im Taumel unaufhörlicher Gegenwart, sind pausenlos unterwegs von Augenblick zu Augenblick, schockstarr eingefroren im unverbundenen Nach- und Nebeneinander des objektiv Wichtigen und subjektiv Banalen. In diesem Präsentismus kommt die Gegenwart ganz zu sich, weil Nutzer (und Wähler) in ihr nicht mehr den Anspruch entwickeln können, der Vergangenheit eine bessere Zukunft schuldig zu sein. Alles ist, im doppelten Wortsinn, gleich.
Die Folge: Die „situative Fokussierung“ löst das „Unterwegssein im Denken“ ab, so der Medienwissenschaftler Roberto Simanowski, die schnelle Information das unendliche Gespräch, der anstrengungslose Zugang das gedankliche Verweilen, die zahlenhafte Nützlichkeit die narrative Ästhetik. Warum den „Zauberberg“ lesen, wenn es ein Abstract gibt, der mich in einfacher Sprache über das Wichtigste informiert? Warum heute über „Auschwitz“ informieren, wenn ich das Wichtigste vom Thema auch morgen noch schnell abrufen kann? Wir haben heute unbegrenzten Zugang zu allem und jedem, wissen aber den Zugang nicht mehr zu nutzen, um im Gespräch zu bleiben mit Autoren, Büchern, Texten, Filmen, Kunstwerken, Alltagsgegenständen - mit dem Vergangenen der Vergangenheit.
Kurzum: Die Gegenwart schrumpft einerseits - und sie nimmt andererseits eine Monstrosität an, deren Banalität uns den Zugang zu einer Geschichte versperrt, die wir nicht mehr als „unsere“ begreifen können. Es sei denn als Video-Post eines Zeitzeugen, der uns für einen Moment zu (be-)rühren versteht - so wie ein Katzenfoto im nächsten.